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Ein indisches Modell für die wirtschaftliche Stärkung von Frauen

SEATTLE – Anlässlich des Jahreswechsels habe ich mir über „Vorsätze“ Gedanken gemacht, genauer gesagt darüber, worauf es für Einzelne oder die Gesellschaft ankommt, wenn es um die entschlossene Umsetzung dieser Vorsätze in einer Welt der endlosen Herausforderungen und Hindernisse geht. Im Laufe meiner beruflichen Laufbahn habe ich viele Beispiele für Erfolge trotz aller Widrigkeiten erlebt - außergewöhnliche Leistungen, die oft damit beginnen, dass eine kleine Gruppe von Personen ein Problem lösen will. Im Idealfall stimmen sich lokale Gemeinschaften, Regierungen und der Privatsektor ab und investieren in Programme und Strategien, die diesen Gruppen mehr Möglichkeiten zur Entfaltung bieten.

Der außerordentliche Erfolg von Frauen-Selbsthilfegruppen in Indien stellt einen dieser Idealfälle dar. Gegründet von Frauen, die entschlossen sind, sich und ihren Familien eine bessere Zukunft zu ermöglichen, florieren diese Gruppen dank innovativer finanzieller und infrastruktureller Unterstützung durch die indische Regierung. Mit über 80 Millionen Frauen, die sich in 7,5 Millionen derartigen Gruppen engagieren, fördert Indien heute das weltgrößte Gemeinde-Entwicklungsprogramm, das mittlerweile einen Schlüsselaspekt der Wirtschaft des Landes darstellt.

Insbesondere in ländlichen Gebieten sind Frauen mit geschlechtsspezifischen Hindernissen konfrontiert, die sie an der vollständigen Teilhabe in ihren Gemeinden sowie am Aufbau einer eigenen Existenz hindern. Sie dürfen weder ein Bankkonto eröffnen noch einen Kredit aufnehmen, weswegen sie auf informelle Darlehen von Verwandten, Freunden oder Geldverleihern angewiesen sind. Darüber hinaus halten traditionelle Familienstrukturen und soziale Normen Frauen möglicherweise davon ab, sich an Aktivitäten zu beteiligen, die für die Gründung oder Erweiterung eines Kleinunternehmens erforderlich sind.

Zur Beseitigung dieser Barrieren wurden Mitte der 1980er Jahre erstmals Selbsthilfegruppen gegründet. Ziel war es, den Frauen Zugang zu Ersparnissen und Krediten zu ermöglichen, damit sie sich eine Existenzgrundlage aufbauen und sich und ihre Familien aus der Armut befreien.  Die Ergebnisse sprechen für sich. Die Frauen-Selbsthilfegruppen haben dazu beigetragen, dass die Armut in Indien in den letzten 15 Jahren außerordentlich stark zurückgegangen ist, nämlich von 55,1 auf 16,4 Prozent (das sind 415 Millionen Menschen).

Anfangs waren die neuen Gruppen darauf angewiesen, dass die – selbst oftmals verarmten – Mitglieder das wenige zur Verfügung stehende Geld zusammenlegten, um einen Start zu ermöglichen. Um diese Notlage zu entschärfen, griff die indische Regierung ein und stellte unbesicherte Kredite zur Verfügung, ohne dass dafür formell registrierte Wirtschaftseinheiten bestehen mussten. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass diese Kredite zu einem überaus wettbewerbsfähigen Zinssatz von 12 Prozent angeboten werden, der sich auf 7 Prozent reduziert, wenn die Gruppe ihren Kredit innerhalb von 30 Tagen vor dem Fälligkeitsdatum zurückzahlt. Auf Grundlage dieser Unterstützung konnte die durchschnittliche Selbsthilfegruppe jeweils etwa 200.000 Rupien (2.500 Dollar) aufnehmen, und im Jahr 2021 wurde die Grenze für besicherungsfreie Kredite von 10.000 auf 25.000 Dollar angehoben.

In den letzten zehn Jahren wurden den Selbsthilfegruppen in Indien über 60 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt und insgesamt haben die Frauen in diesen Gruppen schätzungsweise 6 Milliarden Dollar gespart. Der Zugang zu zinsgünstigen Krediten hilft immer mehr Frauen, nachhaltige Einkommensquellen zu schaffen, Vermögenswerte und Ersparnisse anzulegen sowie finanzielle Sicherheit aufzubauen. Und die einzelnen Gruppenmitglieder verbessern nicht nur ihre finanziellen Kompetenzen, sondern auch ihr Selbstvertrauen und ihren Einfluss innerhalb der Gemeinschaft.

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So konnte beispielsweise eine Selbsthilfegruppe im Dorf Chak Singar Barari im Bundesstaat Bihar ihr Unternehmen so strukturieren, dass jedes Mitglied pro Monat 3.000 bis 4.000 Rupien bekommt. Und jede Frau hat ihre eigene Geschichte: Sunila Devi meldete ihre Kinder in Privatschulen an, Chitrekha Devi arbeitet auf einen Bachelor-Abschluss hin, und Pushpa Devi hat ihr eigenes ambitioniertes Unternehmen zur Vermietung mobiler Soundsysteme gegründet, das es ihr auch ermöglicht, Arbeitskräfte einzustellen.

Nun multipliziere man diese Geschichten millionenfach und man beginnt die Gesamtauswirkungen dieser Gruppen zu verstehen. Mit dem wachsendem Beitrag jeder Frau zum Haushaltseinkommen nimmt auch ihr Mitspracherecht bei Haushaltsentscheidungen zu. Und gemeinsam zeigen sie, was möglich ist, wenn eine der wichtigsten Herausforderungen für die Gleichstellung der Geschlechter - die Stärkung der wirtschaftlichen Kraft der Frauen - in Angriff genommen wird.

Letztlich wissen wir, dass die Stärkung der wirtschaftlichen Kraft einer Frau ihre persönliche Handlungsfähigkeit stärkt und es ihr ermöglicht, eine gewichtigere Rolle in ihrer Familie und in ihrer Gemeinschaft zu spielen. Die von der indischen Regierung geförderten Selbsthilfegruppen zeigen die transformative Wirkung politischer Initiativen, die auf die Bedürfnisse marginalisierter Frauen ausgerichtet sind. Nun besteht die Aufgabe darin, diesen Erfolg weiter auszubauen.

Die Ziele sollten klar sein. In diesem Fall geht es darum, Kredite zugänglich und erschwinglich zu machen, die finanziellen Kompetenzen und die Bonität von Frauen zu verbessern sowie ihre finanzielle Sicherheit zu stärken. Und für die verschiedenen Akteure gilt es, ihre Unterstützung entschlossen anzubieten. Je eingehender man sich mit den Details zu den Selbsthilfegruppen in Indien befasst, desto deutlicher wird das Engagement aller Beteiligten - über alle Wirtschaftssektoren, Bundesstaaten und organisierten Interessengruppen hinweg - um Menschen, Ressourcen und Instrumente zusammenzubringen, die für einen Erfolg in dieser Größenordnung erforderlich sind. Beteiligt waren neben Regierungsstellen auf Ebene des Bundes und der Bundesstaaten auch Banken und andere Finanzinstitute, Forschende und ein umfangreiches Netzwerk von Nichtregierungs- und Freiwilligenorganisationen, die an der Basis in Gemeinden in ganz Indien arbeiten.

Diese Formel aus Entschlossenheit, Zusammenarbeit und politischem Willen lässt sich auch auf andere hartnäckige Hürden auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter anwenden. Eine der hartnäckigsten Herausforderungen, von der ich zuletzt bei einem Besuch in der senegalesischen Hauptstad Dakar hörte, besteht darin, dass Unternehmerinnen auch Leistungen in den Bereichen Unternehmensentwicklung, Kompetenzaufbau und Zugang zu Märkten und Wertschöpfungsketten benötigen. Indiens Programm zeigt, dass derartiges durchaus machbar ist: derzeit verfügen etwa 20 Prozent der Mitglieder in Selbsthilfegruppen über diese zusätzlichen Unterstützungsleistungen und es werden Anstrengungen zur Förderung von Genossenschaften und Unternehmen in Frauenhand unternommen.

Jeder Mensch verdient die Chance auf ein gesundes und produktives Leben. Mein Vorsatz für dieses Jahr lautet, mich weiterhin von den entschlossenen Bemühungen Einzelner und unserer kollektiven Fähigkeit zur Innovation - wie am Beispiel des bemerkenswerten Erfolgs indischer Selbsthilfegruppen gezeigt - inspirieren zu lassen, während wir nach einer gesünderen, glücklicheren und gerechteren Welt streben.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/gKelP1gde