wb457.jpg Mark Weber

Ein neues Modell für Europa

ROM – Es wird immer offensichtlicher, dass business as usual nicht ausreichen wird, damit Europa die aktuelle Krise überwindet. Wir brauchen ein konkreteres Europa, weniger rhetorisch und besser angepasst an die globale Wirtschaft. Wir dürfen uns nicht nur auf die spezifischen Maßnahmen der EU konzentrieren, sondern müssen auch darüber nachdenken, wie wir ihre Politik ändern – eine Veränderung, bei welcher Wirtschaftswachstum an oberster Stelle steht.

Europa braucht keine Debatte zwischen Sparmaßnahmen und Wachstum, es braucht Pragmatismus. Ein gutes Beispiel dafür war die jüngste Sitzung des Europäischen Rats, bei dem es um zwei der dringlichsten Probleme Europas ging: die nicht funktionierenden Arbeitsmärkte, die sich an der hohen Jungendarbeitslosigkeit zeigen, und die nicht funktionierenden Kreditmärkte, mit einem erschwerten Zugang zu Finanzierungen und Kreditzinssätzen, die sich in den verschiedenen Teilen des Binnenmarktes erheblich unterscheiden können.

Das Ergebnis des Europäischen Rats im Juni war ermutigend, und wir müssen in den kommenden Monaten auf diesem Pfad weitergehen, um Fortschritte auf zwei gleichermaßen wichtigen Gebieten zu machen: Wie fördern wir Innovation und die digitale Wirtschaft, und wie sichern wir Europas Wettbewerbsfähigkeit in der Fertigungsindustrie.

Wir müssen unterscheiden zwischen dem, was auf nationaler Ebene erreicht werden kann und dem, was die EU-Institutionen tun sollten. Haushaltskonsolidierung und nationale Reformen sind unbedingt erforderlich und müssen fortgesetzt werden. Aber wir erreichen unsere Ziele besser in einem EU-Rahmenwerk, das nationale Maßnahmen zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung unterstützt, anstatt sie zu verhindern. Die jüngste Entscheidung der Europäischen Kommission, Mitgliedsstaaten eine gewissen Flexibilität hinsichtlich produktiver öffentlicher Investitionen im Zusammenhang mit den EU-Strukturfonds einzuräumen, ist ein willkommener Schritt in diese Richtung.

Das zweite Thema sind weitere Bemühungen in Richtung einer engeren Vernetzung innerhalb der Eurozone. Eine Bankenunion ist ein wichtiger Anfang, die Finanzmärkte daran zu hindern, auf nationaler Ebene zu zersplittern und die Kreditkosten des privaten Sektors zu senken. Die Kreditzinssätze sind noch immer zu hoch für kleine und mittlere Unternehmen und zu abhängig vom jeweiligen Standort eines Unternehmens in der EU.

Wir haben wichtige Ergebnisse hinsichtlich der Einführung einer Bankenunion erzielt, insbesondere, was die Überwachung angeht. Jetzt müssen wir an der zweiten Säule arbeiten, der Überwindung der Bankenkrise. Der von Michel Barnier, dem EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen, vorgelegte Vorschlag ist gewagt, aber Europa braucht tatsächlich einen starken, effizienten Mechanismus zur Beilegung der Krise, der ein zeitnahes Eingreifen bei Bankenkrisen gewährleistet.

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Wir müssen auch darüber nachdenken, wie die Wirtschaftspolitik so koordiniert werden kann, dass sie eine Produktivitätskonvergenz unterstützt. Wir haben bereits einen guten Mechanismus für multilaterale Überwachung, aber wir müssen ihn noch auf die Bereiche fokussieren, die für die Wirtschaftsgemeinschaft wirklich relevant sind.

Das muss Hand in Hand mit einer Diskussion gehen, wie die EU Anreize schaffen kann für Mitgliedsstaaten, die in Zeiten von Ausgabenkürzungen in schwierigen Strukturreformen stecken, was zu Gesprächen über mögliche Formen der Haushaltskoordinierung führen könnte. Es ist zwar noch zu früh, jetzt schon in diese Diskussion einzusteigen, aber das Thema darf nicht vom Tisch fallen.

All diese Veränderungen betreffen natürlich zunächst die Mitglieder der Eurozone, aber sie sind auch für alle anderen Mitgliedsstaaten von Bedeutung. Es wäre auch nicht ratsam, die Eurozonenländer von dem Rest der EU abzusetzen. Für ein reibungsloses Funktionieren des gesamten Binnenmarktes muss sichergestellt werden, dass die Eurozone stabil und effektiv ist. Und ohne eine effiziente EU kann die Eurozone nicht gedeihen. Wir haben nur ein Europa, und wir müssen alle zusammen daran arbeiten, es zu reformieren und zukunftsfähig zu machen.

Mit seinen 500 Millionen Verbrauchern ist der EU-Binnenmarkt noch immer das größte Ziel von Waren und Dienstleistungen weltweit und der beste Motor zur Wiederherstellung von Wachstum. Wirtschaftliche Schlüsselbereiche wie Finanzdienstleistungen profitieren enorm von den gemeinsamen Regeln des Binnenmarktes. Ohne ihn wären alle Mitgliedsstaaten weniger attraktiv für Investoren aus dem Ausland, die sich, sobald sie sich in einem Mitgliedssaat niedergelassen haben, innerhalb der EU frei bewegen können.

Der Binnenmarkt bietet auch eine Plattform und günstige Bedingungen für den Export von Gütern und Dienstleistungen in internationale Märkte. Wir müssen den Binnenmarkt also mehr öffnen, intern und extern.

Aber dafür brauchen wir EU-Institutionen, die effizienter sind, mit besserer Regulierung und einer niedrigeren Administrationslast. Es werden gemeinsame Institutionen gebraucht, die sicherstellen, dass die Interessen aller EU-Länder gewahrt werden und die eine Brücke zwischen Eurozonen- und Nicht-Eurozonen-Ländern schlagen.

Genau genommen war die Funktionsweise der EU und ihrer Institutionen während der Krise Teil des Problems. Für viele Menschen ist die Entscheidungsfindung innerhalb der EU undurchsichtig und zu weit von demokratischer Kontrolle entfernt.

Am besorgniserregendsten ist, dass die Krise gerade die Idee der europäischen Integration infrage stellt. Daher werden wir eine Reformagenda nur dann voranbringen, wenn wir überzeugend darlegen können, warum wir Europa brauchen und warum es im Interesse von aktuellen und zukünftigen Generationen ist.

Ich bin engagierter Europäer. Ich denke an das außergewöhnliche Bild von Helmut Kohl und François Mitterrand, zwei gestandenen Staatsmännern, die 1984 in Verdun Hand in Hand den Opfern des ersten Weltkrieges gedenken.

Im nächsten Jahr wird der 100. Jahrestag des Ausbruchs dieses Krieges begangen. Die Erfahrung zweier Weltkriege war die Grundlage für die europäische Integration. Aber diese Erinnerungen sind nicht länger als Katalysator einer lebendigen Integrationskultur tragfähig. Wir müssen eine zukunftsgerichtete Motivation finden, die nach 50 Jahren der Integration zeigt, dass gemeinsames Handeln Europa helfen kann, seine Ziele in einem sich ändernden globalen Umfeld zu erreichen.

Es gibt nichts Schlimmeres, als die Menschen glauben zu lassen, die europäische Integration werde in Hinterzimmern vollzogen, und sie sei eine Entwicklung, die von unsichtbaren und unkontrollierbaren Mächten vorangetrieben würde.

Heute haben wir die Chance, Europa neu zu gestalten. Die Wahlen zum Europäischen Parlament im nächsten Jahr sind die Gelegenheit für eine Grundsatzdebatte über die Zukunft der EU. Wenn wir nicht überzeugend für Europa (und für ein anderes Europa) werben, werden die Euroskeptiker an Boden gewinnen, und die Entscheidungsprozesse Europas werden blockiert. Die Entscheidung liegt auf der Hand, und sie sollte eher früher statt später fallen.

Aus dem Englischen von Eva Göllner.

https://prosyn.org/LBuNgIcde