hrey1_Hannelore FoersterGetty Images_ecb Hannelore Foerster/Getty Images

Der Kern der neuen EZB-Strategie

LONDON – Dem Beispiel der US Federal Reserve folgend, hat die Europäische Zentralbank eine tiefgreifende Überprüfung ihrer geldpolitischen Strategie eingeleitet. Doch sollten die Notenbanken bei ihren Überlegungen über grundlegende Änderungen ihrer Strategie mögliche Verwerfungen in ihrem operativen Umfeld im Hinterkopf behalten.

Dies gilt nirgends stärker als bei Strategien zur Bekämpfung des Klimawandels, einem der wichtigsten Themen unserer Zeit. Da die europäischen Länder sich verpflichtet haben, ihre Volkswirtschaften bis 2050 kohlenstoffneutral zu machen, muss die EZB jetzt darüber nachdenken, wie ihr geldpolitischer Rahmen zu dieser Umstellung beitragen könnte.

Zwar hat der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union die Gewährleistung der Preisstabilität zum vorrangigen Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken erklärt. Doch heißt es dort auch: „Soweit dies ohne Beeinträchtigung [dieses] Zieles … möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union, um zur Verwirklichung der in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union festgelegten Ziele der Union beizutragen.“ Laut Artikel 3 wirkt die Union „auf … eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin.“

Eine dekarbonisierte Wirtschaft lässt sich offensichtlich nicht ohne tiefgreifende strukturelle Veränderungen erreichen. Die COVID-19-Krise war diesbezüglich ein Augenöffner. Während der Internationale Währungsfonds schätzt, dass die Pandemie das globale BIP in diesem Jahr um ungefähr 4,9% verringern wird, erwartet die Internationale Energieagentur eine 8%ige Verringerung der weltweiten CO2-Emissionen. Doch sind bis 2030 jedes Jahr Emissionsverringerungen dieser Größenordnung unverzichtbar, wenn wir überhaupt eine Chance haben wollen, die globalen Durchschnittstemperaturen unter 1,5 °C über vorindustriellem Niveau zu halten.

Zusätzlich zu den menschlichen Kosten hat die globale Rezession eine enorme Belastung der öffentlichen Finanzen bewirkt, die die Bildung vieler junger Leute und die Fortschritte, die Frauen und Entwicklungsländer in den letzten Jahrzehnten erzielt haben, bedroht. Das Fazit ist, dass sich der Klimawandel nicht einfach durch Reduzierung der Wirtschaftsaktivität bekämpfen lässt; absolut unverzichtbar ist eine umfassende Überarbeitung der bestehenden Produktionssysteme. Der einzige Weg, bis 2050 Emissionsfreiheit zu erreichen, besteht in der Änderung der Art und Weise, wie wir produzieren, transportieren und konsumieren.

Eine der wirksamsten Methoden – und womöglich die einzige Methode – hierfür besteht in der Erhöhung des Kohlenstoffpreises bei gleichzeitiger Beschleunigung der technologischen Innovation. Doch würde dieser Ansatz unweigerlich erhebliche angebotsseitige Schocks hervorrufen. Die Kosten der Produktionsfaktoren, insbesondere der Energie, würden angesichts steigender Kohlenstoffpreise und einer allmählichen Ersetzung fossiler Brennstoffe durch erneuerbare Energien schwankungsanfälliger. Und über die Energie hinaus würden auch der Transportsektor und die Landwirtschaft potenziell destabilisierenden Veränderungen bei den relativen Preisen unterliegen.

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Ganz gleich, für was für einen geldpolitischen Rahmen sich die Notenbanken entscheiden: Er muss in der Lage sein, den großen strukturellen Veränderungen und den Auswirkungen auf die relativen Preise Rechnung zu tragen, die durch die Dekarbonisierung eingeläutet werden. Da sich eine alle Preise übergreifende konstante Inflationsrate nicht aufrechterhalten lässt, wird die Frage für die Geldpolitiker lauten, welchen Preisindex sie stabilisieren wollen.

Im Rahmen des bisherigen Systems orientiert sich die EZB bei ihren Bemühungen zur Steuerung der Inflation in der Eurozone am harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI). Doch enthält dieser Index auch die Energiepreise und ist daher für die Herausforderung der Dekarbonisierung nur schlecht geeignet. Da die Inflation bei den Kohlenstoffpreisen von der EU-Politik selbst herbeigeführt wurde, sollte die EZB bei einem Anstieg der relativen Preise für Energie nicht versuchen, andere Preise im HVPI nach unten zu drücken, da dies noch größere Verzerrungen verursachen würde.

Die unvermeidliche Schlussfolgerung ist daher, dass die EZB den HVPI aufgeben und Indices zur Kerninflation, die keine Energie- und Lebensmittelpreise enthalten, verwenden muss. Der Grund hierfür ist nicht bloß, dass die Kerninflation ein zuverlässigerer Indikator der Inflationskomponente niedrigerer Frequenz ist, sondern vielmehr, dass die Geldpolitiker zwischen Preisveränderungen unterscheiden müssen, die aus gutem Grund (infolge wünschenswerter struktureller Veränderungen) eintreten, und solchen, die ein temporäres Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage anzeigen. Die EZB sollte sich bemühen, nur Letztere zu minimieren.

Zwar wird manchmal argumentiert, dass die Notenbanken sich an Verbraucherpreisindices wie dem HVPI orientieren sollten, weil diese die Kaufkraft besser widerspiegeln und sich Politikentscheidungen daran besser erklären lassen. Doch zeigen jüngste Umfragen, dass bereits der aktuelle Rahmen von der Bevölkerung nicht gut verstanden wird.

Es ist eindeutig, dass die Notenbanken ihre Kommunikationspolitik verbessern müssen. Nicht offensichtlich jedoch ist, dass bei der Kommunikation mit der Bevölkerung die Orientierung an einem um die Energiepreise bereinigten Kernpreisindex problematischer wäre als der gegenwärtige Ansatz. Und für Experten, die geldpolitischen Fragen genau folgen, sollte dies noch unproblematischer sein.

Über die Änderung ihres Zielpreises hinaus sollte die EZB auch Reformen in Betracht ziehen, um ihren Rahmen widerstandsfähiger gegen angebotsbedingte Schocks zu machen. Eine Option ist dabei, einen Entwicklungspfad für das nominale BIP anzustreben, sodass Erschütterungen durch von wirtschaftlichen Abschwächungen begleitete Kostenanstiege keine ungewollten Zinserhöhungen auslösen. In einem postpandemischen Umfeld, in dem die Nominalverschuldung lange Zeit hoch bleiben wird, wäre es problematisch, wenn die Geldpolitik gestrafft werden müsste, nur weil ein angebotsseitiger Schock die Inflation über 2% drückt. Bei einem gedämpften realen (inflationsbereinigten) BIP-Wachstum könnte eine Straffung der Geldpolitik die Schuldendynamik destabilisieren und dramatische Folgen nach sich ziehen.

In einem System mit einer Zielsetzung für das nominale BIP und glaubwürdigen Haushaltsregeln für die Eurozone dagegen wäre die EZB besser aufgestellt, um einer geordneten, allmählichen Verringerung der Schuldenquoten vorzustehen, während die Preisstabilität mittelfristig garantiert wäre.

Jedenfalls ist offensichtlich, was die EZB in Erwartung der vor uns liegenden wichtigen strukturellen Veränderungen als Erstes tun muss. Es ist Zeit, dass sie ihr Preisziel auf einen Kernpreisindex umstellt, damit ihre Strategie besser auf die umfassendere Klima- und Dekarbonisierungsagenda der EU abgestimmt ist.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/yfSjqypde