LJUBLJANA – Es sind verrückte Zeiten. Naturkatastrophen biblischen Ausmaßes wie die wiederholten sintflutartigen Regenfälle in Dubai oder das massenhafte Fischsterbenin einem überhitzten Stausee in Vietnam scheinen ein Spiegelbild der Überhitzung in unserer Politik und unserem sozialen Umfeld zu sein.
In solchen Momenten ist es wichtig, kühlen Kopf zu bewahren und alle seltsamen Phänomene so genau, objektiv und leidenschaftslos wie möglich zu analysieren. Und nur wenige Phänomene präsentieren sich heutzutage seltsamer als die Proteste im Zusammenhang mit Israels Bombardement und Invasion des Gazastreifens als Reaktion auf den Terroranschlag der Hamas im vergangenen Oktober.
Wir sollten die Rhetorik einiger politisierter Muslime zur Kenntnis nehmen, wie etwa jener, die kürzlich in Hamburg demonstrierten und die Parole „Kalifat ist die Lösung“ skandierten. Und wir sollten uns eingestehen, dass trotz einer massiven Präsenz von Juden unter den Protestierenden sich zumindest ein paar echte Antisemiten darunter befinden (so wie es auch einige Genozid-Fanatiker in Israel gibt).
Auch wenn zahlreiche Kommentatoren eine Parallele zwischen den heutigen pro-palästinensischen Demonstrationen und den Studentenprotesten von 1968 gegen den Vietnamkrieg festgestellt haben, verweist der italienische Philosoph Franco Berardi auf einen bedeutenden Unterschied. Zumindest rhetorisch identifizierten sich die Protestierenden von 1968 ausdrücklich mit der antiimperialistischen Position des Vietcong und einem umfassenderen, positiven sozialistischen Projekt, während sich die heutigen Demonstrierenden nur sehr selten mit der Hamas, sondern „mit der Verzweiflung identifizieren.“
Berardi formuliert es so: „Verzweiflung ist das psychologische und auch kulturelle Merkmal, das die breite Identifikation junger Menschen mit den Palästinensern erklärt. Ich glaube, dass die Mehrheit der Studierenden heute bewusst oder unbewusst eine unabänderliche Verschlechterung der Lebensbedingungen, den irreversiblen Klimawandel, eine lang anhaltende Phase des Krieges sowie die drohende Gefahr einer nuklearen Zuspitzung der an vielen Stellen der geopolitischen Landkarte bestehenden Konflikte erwartet.“
Besser lässt sich die Situation wohl kaum erklären. Die obszön repressive Reaktion der Behörden auf die Proteste unterstützt Berardis Hypothese. Das harte Durchgreifen ist nicht von der Befürchtung motiviert, dass die Proteste eine neue politische Bewegung auslösen könnten. Vielmehr sind sie Ausdruck von Panik - einer vergeblichen Weigerung, sich der Verzweiflung zu stellen, die unsere Gesellschaften durchdringt.
At a time of escalating global turmoil, there is an urgent need for incisive, informed analysis of the issues and questions driving the news – just what PS has always provided.
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Anzeichen dieser Panik sind allgegenwärtig, so dass ich nur zwei Beispiele erwähnen möchte. Ende letzten Monats haben 12 US-Senatoren einen Brief an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) geschickt und diesem mit Sanktionen gedroht, sollte man beschließen, gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu einen Haftbefehl auszustellen.
Obwohl es sich dabei um ein rein republikanisches Unterfangen handelte, hat auch die Regierung unter Präsident Joe Biden Druck auf den IStGH ausgeübt, offizielle Vertreter Israels nicht wegen Kriegsverbrechen in Gaza anzuklagen. Derartige Drohungen signalisieren nicht weniger als den Niedergang gemeinsamer globaler Werte. Dieses Ideal hatte zwar immer etwas Heuchlerisches an sich (die Vereinigten Staaten haben sich beispielsweise geweigert, dem IStGH beizutreten), aber die Staaten haben es zumindest im Geiste hochgehalten.
Das zweite Beispiel aus jüngster Zeit unterstützt diese Schlussfolgerung ebenfalls. Am 4. Mai verweigerte Frankreich (unter Einhaltung eines zunächst von Deutschland verhängten Visumverbots) dem britisch-palästinensischem Chirurgen Ghassan Abu-Sitta die Einreise. Der Arzt hätte dem französischen Senat über seine Erfahrungen während der Behandlung von Kriegsopfern im Gazastreifen berichten sollen. Angesichts derartiger plumper Akte der Zensur und Ausgrenzung, die sich vor unseren Augen abspielen, ist es nicht übertrieben festzustellen, dass unsere Demokratien zerbröckeln.
Jeder Mensch weiß, dass die Lage in Gaza inakzeptabel ist. Dennoch wird viel Energie darauf verwendet, die Art von Intervention zu verschieben, die diese Krise erfordert.
Eine Möglichkeit für einen Ausweg aus dieser Sackgasse besteht in öffentlicher Unterstützung für die Studentenproteste. US-Senator Bernie Sanders formulierte am 28. April: „Was Netanjahus rechtsextreme und rassistische Regierung tut, ist beispiellos in der modernen Geschichte der Kriegsführung ... Im Moment sehen wir der Möglichkeit einer massiven Hungersnot und des massenhaften Hungertods in Gaza entgegen. Diese Anschuldigungen sind nicht antisemitisch. Das ist die Realität.”
Nach den Anschlägen vom 7. Oktober hob Israel die brutale Realität der Taten der Hamas hervor. Man lasse die Bilder für sich sprechen, sagten die israelischen Behörden. Die brutalen Morde und Vergewaltigungen waren von den Tätern aufgezeichnet worden und für jeden zu sehen. Eine komplexe Kontextualisierung war nicht nötig.
Können wir jetzt nicht dasselbe über das Leiden der Palästinenser in Gaza sagen? Man lasse die Bilder für sich sprechen. Seht die hungernden Menschen in ihren überfüllten improvisierten Zelten, die Kinder, wie sie langsam sterben, während israelische Raketen und Drohnen die Gebäude erst in Ruinen, dann in Schutt und schließlich in Staub verwandeln.
Mich erinnert das an die Worte, die Michael Ignatieff (damals Journalist) im Jahr 2003 über die US-Invasion im Irak schrieb: „Für mich lautet die Schlüsselfrage: Was wäre ein optimales Ergebnis für die Menschen im Irak - was würde die Menschenrechte von 26 Millionen Irakern am ehesten verbessern? Was mich an der Gegnerschaft [zum Krieg] immer verrückt machte, war, dass es nie um den Irak ging. Es handelte sich um ein Referendum über die amerikanische Macht.”
Für die heutigen Antikriegsproteste gilt das nicht. Sie sind alles andere als ein Referendum über die palästinensische, israelische oder amerikanische Macht, sondern werden in erster Linie von dem verzweifelten Appell getragen, das Töten der Palästinenser in Gaza zu stoppen.
Was sollte die Regierung Biden nun also tun (abgesehen davon, auf dem diesjährigen Stimmzettel Vizepräsidentin Kamala Harris durch Taylor Swift zu ersetzen)? Zunächst einmal können sich die USA der weltweiten Initiative zur Anerkennung eines Staates Palästina anschließen. Die Staatlichkeit Palästinas ist keineswegs ein Hindernis für den Frieden im Nahen Osten, sondern eine Vorbedingung für ernsthafte Verhandlungen zwischen den beiden Seiten. Im Gegensatz dazu würde die Ablehnung (oder das endlose Hinausschieben) einer solchen Anerkennung unweigerlich zu der fatalistischen Schlussfolgerung führen, Krieg sei die einzige Option.
So seltsam es auch klingen mag, wir erleben gerade eine der Kehrseiten des amerikanischen Hegemonieverlusts (wie dies auch beim Rückzug der USA aus Nordsyrien und später aus Afghanistan der Fall war). Idealerweise würden die USA einfach vom Meer aus in den Gazastreifen einmarschieren, Frieden und Ordnung wiederherstellen und die Bevölkerung mit humanitärer Hilfe versorgen. Aber damit ist wohl nicht zu rechnen. Denn auf eines ist Verlass: dass die USA immer die Gelegenheit verpassen, ihre verbliebene imperiale Macht für eine gute Sache einzusetzen.
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US Vice President J.D. Vance's speech at this year's Munich Security Conference made it clear that the long postwar era of Atlanticism is over, and that Europeans now must take their sovereignty into their own hands. With ample resources to do so, all that is required is the collective political will.
explains what the European Union must do now that America has walked away from the transatlantic relationship.
Donald Trump has upended seven decades of US foreign policy in a matter of weeks, leaving global leaders aghast and bewildered. But while his actions may seem unparalleled, there is a precedent for his political blitzkrieg: Mao Zedong, who had an even more impressive penchant for chaos and disruption.
sees obvious and troubling parallels between the US president and Mao Zedong.
LJUBLJANA – Es sind verrückte Zeiten. Naturkatastrophen biblischen Ausmaßes wie die wiederholten sintflutartigen Regenfälle in Dubai oder das massenhafte Fischsterbenin einem überhitzten Stausee in Vietnam scheinen ein Spiegelbild der Überhitzung in unserer Politik und unserem sozialen Umfeld zu sein.
In solchen Momenten ist es wichtig, kühlen Kopf zu bewahren und alle seltsamen Phänomene so genau, objektiv und leidenschaftslos wie möglich zu analysieren. Und nur wenige Phänomene präsentieren sich heutzutage seltsamer als die Proteste im Zusammenhang mit Israels Bombardement und Invasion des Gazastreifens als Reaktion auf den Terroranschlag der Hamas im vergangenen Oktober.
Wir sollten die Rhetorik einiger politisierter Muslime zur Kenntnis nehmen, wie etwa jener, die kürzlich in Hamburg demonstrierten und die Parole „Kalifat ist die Lösung“ skandierten. Und wir sollten uns eingestehen, dass trotz einer massiven Präsenz von Juden unter den Protestierenden sich zumindest ein paar echte Antisemiten darunter befinden (so wie es auch einige Genozid-Fanatiker in Israel gibt).
Auch wenn zahlreiche Kommentatoren eine Parallele zwischen den heutigen pro-palästinensischen Demonstrationen und den Studentenprotesten von 1968 gegen den Vietnamkrieg festgestellt haben, verweist der italienische Philosoph Franco Berardi auf einen bedeutenden Unterschied. Zumindest rhetorisch identifizierten sich die Protestierenden von 1968 ausdrücklich mit der antiimperialistischen Position des Vietcong und einem umfassenderen, positiven sozialistischen Projekt, während sich die heutigen Demonstrierenden nur sehr selten mit der Hamas, sondern „mit der Verzweiflung identifizieren.“
Berardi formuliert es so: „Verzweiflung ist das psychologische und auch kulturelle Merkmal, das die breite Identifikation junger Menschen mit den Palästinensern erklärt. Ich glaube, dass die Mehrheit der Studierenden heute bewusst oder unbewusst eine unabänderliche Verschlechterung der Lebensbedingungen, den irreversiblen Klimawandel, eine lang anhaltende Phase des Krieges sowie die drohende Gefahr einer nuklearen Zuspitzung der an vielen Stellen der geopolitischen Landkarte bestehenden Konflikte erwartet.“
Besser lässt sich die Situation wohl kaum erklären. Die obszön repressive Reaktion der Behörden auf die Proteste unterstützt Berardis Hypothese. Das harte Durchgreifen ist nicht von der Befürchtung motiviert, dass die Proteste eine neue politische Bewegung auslösen könnten. Vielmehr sind sie Ausdruck von Panik - einer vergeblichen Weigerung, sich der Verzweiflung zu stellen, die unsere Gesellschaften durchdringt.
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Obwohl es sich dabei um ein rein republikanisches Unterfangen handelte, hat auch die Regierung unter Präsident Joe Biden Druck auf den IStGH ausgeübt, offizielle Vertreter Israels nicht wegen Kriegsverbrechen in Gaza anzuklagen. Derartige Drohungen signalisieren nicht weniger als den Niedergang gemeinsamer globaler Werte. Dieses Ideal hatte zwar immer etwas Heuchlerisches an sich (die Vereinigten Staaten haben sich beispielsweise geweigert, dem IStGH beizutreten), aber die Staaten haben es zumindest im Geiste hochgehalten.
Das zweite Beispiel aus jüngster Zeit unterstützt diese Schlussfolgerung ebenfalls. Am 4. Mai verweigerte Frankreich (unter Einhaltung eines zunächst von Deutschland verhängten Visumverbots) dem britisch-palästinensischem Chirurgen Ghassan Abu-Sitta die Einreise. Der Arzt hätte dem französischen Senat über seine Erfahrungen während der Behandlung von Kriegsopfern im Gazastreifen berichten sollen. Angesichts derartiger plumper Akte der Zensur und Ausgrenzung, die sich vor unseren Augen abspielen, ist es nicht übertrieben festzustellen, dass unsere Demokratien zerbröckeln.
Jeder Mensch weiß, dass die Lage in Gaza inakzeptabel ist. Dennoch wird viel Energie darauf verwendet, die Art von Intervention zu verschieben, die diese Krise erfordert.
Eine Möglichkeit für einen Ausweg aus dieser Sackgasse besteht in öffentlicher Unterstützung für die Studentenproteste. US-Senator Bernie Sanders formulierte am 28. April: „Was Netanjahus rechtsextreme und rassistische Regierung tut, ist beispiellos in der modernen Geschichte der Kriegsführung ... Im Moment sehen wir der Möglichkeit einer massiven Hungersnot und des massenhaften Hungertods in Gaza entgegen. Diese Anschuldigungen sind nicht antisemitisch. Das ist die Realität.”
Nach den Anschlägen vom 7. Oktober hob Israel die brutale Realität der Taten der Hamas hervor. Man lasse die Bilder für sich sprechen, sagten die israelischen Behörden. Die brutalen Morde und Vergewaltigungen waren von den Tätern aufgezeichnet worden und für jeden zu sehen. Eine komplexe Kontextualisierung war nicht nötig.
Können wir jetzt nicht dasselbe über das Leiden der Palästinenser in Gaza sagen? Man lasse die Bilder für sich sprechen. Seht die hungernden Menschen in ihren überfüllten improvisierten Zelten, die Kinder, wie sie langsam sterben, während israelische Raketen und Drohnen die Gebäude erst in Ruinen, dann in Schutt und schließlich in Staub verwandeln.
Mich erinnert das an die Worte, die Michael Ignatieff (damals Journalist) im Jahr 2003 über die US-Invasion im Irak schrieb: „Für mich lautet die Schlüsselfrage: Was wäre ein optimales Ergebnis für die Menschen im Irak - was würde die Menschenrechte von 26 Millionen Irakern am ehesten verbessern? Was mich an der Gegnerschaft [zum Krieg] immer verrückt machte, war, dass es nie um den Irak ging. Es handelte sich um ein Referendum über die amerikanische Macht.”
Für die heutigen Antikriegsproteste gilt das nicht. Sie sind alles andere als ein Referendum über die palästinensische, israelische oder amerikanische Macht, sondern werden in erster Linie von dem verzweifelten Appell getragen, das Töten der Palästinenser in Gaza zu stoppen.
Was sollte die Regierung Biden nun also tun (abgesehen davon, auf dem diesjährigen Stimmzettel Vizepräsidentin Kamala Harris durch Taylor Swift zu ersetzen)? Zunächst einmal können sich die USA der weltweiten Initiative zur Anerkennung eines Staates Palästina anschließen. Die Staatlichkeit Palästinas ist keineswegs ein Hindernis für den Frieden im Nahen Osten, sondern eine Vorbedingung für ernsthafte Verhandlungen zwischen den beiden Seiten. Im Gegensatz dazu würde die Ablehnung (oder das endlose Hinausschieben) einer solchen Anerkennung unweigerlich zu der fatalistischen Schlussfolgerung führen, Krieg sei die einzige Option.
So seltsam es auch klingen mag, wir erleben gerade eine der Kehrseiten des amerikanischen Hegemonieverlusts (wie dies auch beim Rückzug der USA aus Nordsyrien und später aus Afghanistan der Fall war). Idealerweise würden die USA einfach vom Meer aus in den Gazastreifen einmarschieren, Frieden und Ordnung wiederherstellen und die Bevölkerung mit humanitärer Hilfe versorgen. Aber damit ist wohl nicht zu rechnen. Denn auf eines ist Verlass: dass die USA immer die Gelegenheit verpassen, ihre verbliebene imperiale Macht für eine gute Sache einzusetzen.
Übersetzung: Helga Klinger-Groier