Vladimir Putin toasts glass of vodka_Mikhail Svetlov_Getty Images cropped Mikhail Svetlov/Getty Images

Von Korruption besoffen

Mein Freund Boris war schon betrunken, als er mein Haus verlassen wollte. Daher empfahl ich ihm, nicht mehr zu fahren. ,,Warum?", fragte er. ,,Sie stehen unter Alkoholeinfluss," sagte ich, ,,haben Sie denn keine Angst vor der Polizei?" "Nein!" antwortete Boris, "ich habe ein Dokument mit Benjamin Franklins Kopf darauf. Das hilft immer." Er zeigte mir seinen Führerschein mit einer daran gehefteten 100-Dollar Note.

Natürlich wußte ich auch, daß die Polizei Bestechungsgelder annimmt, hatte aber Sorge, Boris könnte an einen geraten, der nicht bestechlich war. "Völlig unmöglich", verteidigte sich Boris, "als Verkehrspolizist muß man seinen Chef schmieren. Wie soll man aber ohne Bestechungsgelder den Chef schmieren können? Die Hälfte der Autofahrer in Moskau benutzen Führerscheine, die sie illegal gekauft haben. Idioten, die versuchen, so etwas auf ehrliche Weise zu bekommen, ertrinken im bürokratischen Kleinkram. Zahle 100 Dollar und Du kannst auch ohne Bremsen fahren!"

Bestechung und Unterschlagungen gab es in Russland schon immer, das war vor Lenins Oktober Revolution so und danach. Aber niemals geschah es in so ungeheurem Umfang wie heute. Jeder lässt sich hier bestechen und zwar von jedem, überall und für alles. Nur diejenigen sind unbestechlich, denen nichts angeboten wird, meint Boris.

Die Bestechung blüht in den meisten Institutionen. Der Kampf dagegen endet immer in einer Katastrophe oder wird aufgegeben. Die Polizei, die Staatsanwälte und Zollbeamte, sogar der Kreml: niemand und nichts ist davor gefeit.

Kürzlich besichtigte ich eine Villenkolonie in einem der besten Vororte Moskaus. Sie war luxuriös ausgestattet, glich aber einem Gulag, so sehr war sie ringsum mit hohen Zäunen und Mauern zugestellt. Ich überlegte, weshalb diese protzigen Häuser so geschmacklos dekoriert waren, und fragte deshalb, wem sie gehörten. Ich erfuhr, dass eines der Häuser dem stellvertretenden Bürgermeister von Moskau gehörte, ein anderes einem berühmten Sänger, das nächste dem Sohn des Moskauer Oberstaatsanwalts. Doch das auffälligste Anwesen gehörte einem einfachen Beamten von der Steuerfandung.

Die Korruption gefährdet Russland heute noch mehr als der Krieg in Tschetschenien. Tatsächlich würde der Tschetschenien-Krieg nicht so lange dauern, wie er es tut, wenn es nicht die Bestechlichkeit der Generale, Offiziere, Beamten und Polizisten gäbe, die den Rebellen Waffen und Ausrüstung verkaufen.

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Im russischen Fernsehen war kürzlich der Bus zu sehen, der zwischen Grozny und Moskau pendelt. Es war eben der Bus, in dem die 120 Kilogramm Sprengstoff nach Moskau gebracht wurden, die bei dem Geiseldrama im Dubrovka-Theaters benutzt wurden, in dem beim Versuch, die Geiseln zu befreien, so viele Menschen umgekommen sind. Ein weiblicher Fahrgast hatte den Sprengstoffe mit einem in Säure getränkten Tuch zugedeckt, um Spürhunde der Kontrollstreife daran zu hindern, ihn zu entdecken.

Das war eine unnötige Vorsorge. Niemand überprüft die Busse heutzutage. Der Fahrer, der nicht wußte, was er da an Bord hatte, sagte später aus, er sei auf der Fahrt gut 50 Mal angehalten worden. Es war aber immer das Gleiche. Ein Polizist fragt: ,,Kennen Sie den Preis?" ,,Sicher, kenne ich ihn", antwortet der Fahrer, bezahlt die Bestechungssumme und darf weiterfahren. Ohne die Bestechung wäre der Bus an jeder Haltestelle stundenlang angehalten worden, das hätte die Fahrt um Tage verzögert.

Der Tschetschenische Krieg geht weiter und weiter, nicht etwa weil die tschetschenischen Rebellen die Unterstützung der Al-Qaida und der ganzen 'Terroristen Internationale' besäßen, sondern weil sie einen Verbündeten in der russischen Korruption haben. Polizisten, militärische und bürgerliche Bestechungsnehmer und Diebe, die zuerst die tschetschenischen Zivilisten besteuern oder einfach nur bestehlen, verkaufen den Terroristen Waffen und Sprengstoff, zeigen ihnen auf den Militärkarten die Minenfelder und versorgen die Rebellen mit gefälschten Papieren. Im Mai dieses Jahres benutzten die Terroristen für einen Bombenanschlag in einer Stadt am Kaspischen See Waffen, die ihnen russische Armee-Offiziere verkauft hatten.

Die Rebellen haben moderne Waffen. Woher? In den Bergen, in denen sich die Rebellen versteckt halten, gibt es keine Waffengeschäfte. Aber die 80.000 russischen Soldaten, die gegen die Rebellen kämpfen, haben Munitions- und Waffenbestände. Aus ihnen werden Waffen gestohlen und weiterverkauft. Nicht nur Waffen: manche untere Offiziersränge verkaufen sogar ihre Männer in die Sklaverei.

Die Korruption in Russland hat katastrophale Ausmaße angenommen, ohne dass der Kampf dagegen ernsthaft aufgenommen worden wäre. Härtere Strafe für Bestechung? So etwas führt nur zu höheren Bestechungssummen. Je härter die Strafe, desto mehr zahlt man, um sie zu umgehen.

Die Beamten wollen die Korruption nicht bekämpfen, weil sie selbst korrupt sind. Daher schauen die sogenannten 'einfachen Leute' dem voll Verständnis zu. Sie sagen von ihrem Bürgermeister: Sicher, er stiehlt, aber sieh doch, wie viel er für die Stadt getan hat!

Normalen Leuten missfallen sogar ehrliche Arbeiter. Warum? Eine Zugfahrkarte kostet 100 Rubel. Mit einer kleinen Bestechung, reist man für 50 Rubel. Auf diese Weise hat der Fahrgast und der Kontrolleur etwas davon. Eine ehrliche Babuschka erzählte mir einmal, sie habe eine Fahrkarte gekauft und wollte in den Zug einzusteigen. Da hielt der Stationsvorsteher sie auf und sagte, dass Fahrgäste mit Fahrscheinen in diesem Zug nicht zugelassen seien!

Für Millionen Russen gehört die Korruption inzwischen zur normalen Lebensweise. Wenn Sie nicht wollen, dass Ihr Sohn in die Armee eingezogen wird, bezahlen Sie dem Einberufungsbeamten etwas und er wird den Namen Ihres Sohnes aus der Liste streichen oder er wird einen Arzt bestechen, damit der ihn ,,für den Militärdienst untauglich" erklärt. Für eine bestimmte Summe kann man jede Fachhochschule ohne Rücksicht auf die Vorleistungen besuchen. Sie können betrunken Auto fahren, die Geschwindigkeitsbeschränkung missachten, bei Rot über die Kreuzung fahren - vorausgesetzt sie haben einen Ben Franklin für die Polizei dabei.

Alexander Menschikow, der Minister Peter des Großen, sah ein, dass der Kampf gegen die Korruption unmöglich zu gewinnen war. Als Zar Peter die verbreitete Korruption in Russlands wieder einmal recht anekelte und er beschloss, bestechliche Beamten hängen zu lassen, soll Menschikow gesagt haben, "Majestät, Sie riskieren alle Ihre Untertanen zu verlieren."

In den Jahrhunderten seither wurde die Situation immer nur noch schlimmer. Wollte der Staat die Korruption mit Stumpf und Stiel ausrotten, würden ihm keine Bürger mehr bleiben. Wenn wir aber das Vordringen der Korruption nicht aufhalten, werden die Bürger bald ohne einen Staat dastehen.

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