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Kippt der Krieg in der Ukraine die Nachhaltigkeitsagenda?

PARIS – Im Krieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine gibt es viel mehr Opfer als die Ukrainer, die von den russischen Streitkräften gezielt angegriffen werden. Die russische Aggression bedroht auch die globale Nachhaltigkeitsagenda – mit möglicherweise verheerenden Folgen für den gesamten Planeten.

Schon in der Coronapandemie haben sich die Länder auf die unmittelbare Gesundheitsgefahr konzentriert und weltweit Aufmerksamkeit und Ressourcen von den auf der UN-Klimakonferenz in Paris beschlossenen Zielen abgezogen. Jetzt verstärkt Putins Krieg den wirtschaftlichen, sozialen und geopolitischen Druck, unter dem viele Länder stehen, und vertieft die Gräben zwischen ihnen. Für den gemeinsamen Kampf gegen den Klimawandel verheißt das nichts Gutes.

Um unsere Chancen zu verbessern, die Nachhaltigkeitsagenda doch noch zu retten, müssen wir die Probleme und Gebote der aktuellen Krise anerkennen und unseren Ansatz entsprechend anpassen. Das bedeutet auch, dass unsere Kriterien zu den Aspekten Umwelt, Soziales und Governance (ESG-Kriterien) einerseits ganzheitlicher und andererseits detaillierter werden müssen.

Vor allem muss jede Diskussion zur Energiepolitik nun sowohl das nicht verhandelbare Ziel der Klimaneutralität bis 2050 als auch die Notwendigkeit berücksichtigen, die Energiesicherheit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten. Wenn sich Energiepolitik nur noch auf Sicherheitsfragen konzentriert, läuft sie Gefahr, die Nachhaltigkeitsagenda zu untergraben.

Der europäische Versuch, russisches Gas durch Flüssigerdgas (LNG) aus den USA oder Katar zu ersetzen, ist ein typisches Beispiel. Nun könnte man sagen, das sei nur eine „Übergangslösung“ für ein akutes Problem. Solche Systeme können sich aber schnell verfestigt und alle Anstrengungen zur Dekarbonisierung der Stromerzeugung zunichtemachen, zum Beispiel, wenn die Betreiber von den Regierungen langfristige vertragliche Verpflichtungen fordern.

Natürlich muss auf den Krieg in der Ukraine schnell reagiert werden, unter Umständen auch mit Übergangslösungen. Diese Maßnahmen müssen jedoch sorgfältig in eine umfassende Strategie integriert werden, zu der ein schnellerer Umstieg auf erneuerbare Energien – der in der Europäischen Union womöglich nur durch eine Aufstockung der Mittel des Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ möglich ist – und eine Neubewertung der Atomkraft gehört.

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Die EU hat die endgültige Position der Atomkraft in ihrer Nachhaltigkeitstaxonomie, die Unternehmen, Investoren und Politik den Weg zu klimafreundlichen Tätigkeiten und Investitionen weisen soll, noch nicht gefunden. In diesem Zusammenhang ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Internationale Energieagentur in ihrem World Energy Outlook 2021 empfiehlt, den Anteil der Atomkraft am Energiemix zu erhöhen.

Das betrifft aber nicht nur die Politik; alle Investoren müssen das Energieproblem ganzheitlich betrachten und dabei ein Gleichgewicht zwischen dem zwingenden Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen und den geopolitischen Bedingungen des jeweiligen Landes finden. Und sie müssen lernen, ökologische und soziale Aspekte gemeinsam zu bewerten.

Die Idee einer „gerechten Energiewende“ ist nicht neu. Durch Russlands Krieg gegen die Ukraine, der nicht nur die weltweiten Preise für Energie, sondern auch die Lebensmittelpreise in die Höhe getrieben hat, gewinnt sie jedoch neue Aktualität. Denn der Krieg unterbricht auch die Lebensmittellieferungen aus Russland und der Ukraine und bedroht dadurch die globale Ernährungssicherheit.

Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie – zwei energieintensive Sektoren mit weitreichenden Auswirkungen auf die Artenvielfalt – waren für das Erreichen der Klimaneutralität schon immer von zentraler Bedeutung. Nun hat der Ukrainekrieg gezeigt, dass jede Strategie, die Umweltverträglichkeit dieser Sektoren zu verbessern, gleichzeitig die Ernährungssicherheit gewährleisten muss, zum Beispiel durch die Diversifizierung der Lebensmittelversorgung.

Aber nicht nur Unternehmen müssen ökologische und soziale Fragen zusammen denken, sondern auch – und vielleicht noch viel mehr – Regierungen. Bisher stellt die Finanzbranche hierfür noch keine ausreichend detaillierte einheitliche Methodologie bereit. Dafür muss sie einen Ansatz entwickeln, der berücksichtigt, wie wirksam die Regierungen die Umverteilungseffekte der Maßnahmen steuert, mit den sie die Energiewende umsetzt. Wenn die Belastungen nicht gerecht verteilt werden, schwindet der Rückhalt für den Klimaschutz in der Bevölkerung.

Ein weiterer Bereich, in dem die politischen Strategien aufgrund des Kriegs in der Ukraine feiner abgestimmt werden müssen, sind Kryptowährungen. Bisher lag der Schwerpunkt auf den ökologischen Auswirkungen des äußerst energieintensiven „Schürfens“ von Kryptowährungen. Der Krieg wirft nun ein Schlaglicht auf die sozialen und geopolitischen Dimensionen von Kryptowährungen, die die Ukraine bereits zum Crowdfunding seines Militärs nutzt, und Russland nutzen könnte, um internationale Sanktionen zu umgehen.

Schließlich müssen Investoren auch die Verteidigungsindustrie nuancierter betrachten. In der Regel schließen Investoren, die nach ESG-Kriterien entscheiden, diese Unternehmen aus ihren Portfolios aus. Zwar gibt es keinen Grund, nun plötzlich in die Entwicklung und Herstellung umstrittener Waffen zu investieren, allerdings sollten an Nachhaltigkeit interessierte Investoren vielleicht ihre Einstellung zu Firmen überdenken, deren Produkte die Verteidigungsbereitschaft gegen Aggressoren erhöhen. Wir brauchen dringend zuverlässigere Grundsätze für die Integration der Menschenrechte in Investitionsstrategien.

In dieser – und sehr wahrscheinlich vieler anderer – Hinsicht hat der Krieg in der Ukraine das Investieren nach ESG-Kriterien verkompliziert. Das kann sich auf die Nachhaltigkeitsagenda verheerend auswirken, insbesondere, wenn es als Ausrede dafür genutzt wird, ökologische und soziale Überlegungen ganz zurückzustellen. Das große Schweigen, mit dem die Welt auf den jüngsten Bericht des Weltklimawandels reagiert hat, zeigt, wie akut diese Gefahr ist.

Um das zu vermeiden, müssen Wirtschaft und Zivilgesellschaft gemeinsam den Weg in die Zukunft weisen. Investoren, Verbraucher, Arbeitnehmer und Unternehmen müssen gemeinsam Verantwortung übernehmen und ein neues System entwickeln, das der Vision des Übereinkommens von Paris gerecht wird und dazu auch die ESG-Kriterien erweitert und verfeinert.

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