Ein großer Zusammenbruch?

ISTANBUL – Dieser Monat – in dem sich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum einhundertsten Mal jährt – ist ein günstiger Zeitpunkt, um über große Risiken nachzudenken. Wie Michael Spence jüngst warnte, entwickelt sich das wachsende Sicherheitsdefizit der internationalen Ordnung, das jedwede globale Ordnungspolitik schwächt, rasch zum größten Risiko für die Weltwirtschaft.  Das gleiche Argument hätte man auch vor hundert Jahren vorbringen können.

Am 30. Juli 1914, fünf Wochen nach der Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo nahmen österreichische Kriegsschiffe Belgrad unter Beschuss. Mitte August befand sich die Welt im Krieg. Der vier Jahre später nach dem Tod von etwa 20 Millionen Menschen beschlossene Waffenstillstand entpuppte sich lediglich als Intermezzo bis zum Beginn der Schrecken des Zweiten Weltkriegs.  

In den Jahren vor August 1914, bis zum Attentat auf den Erzherzog, entwickelte sich die Weltwirtschaft relativ gut: der Handel expandierte weltweit, die Finanzmärkte erschienen gesund und in Wirtschaftskreisen tat man politische Probleme entweder als vorübergehend oder irrelevant ab.  Es war ein politischer Zusammenbruch, der zu drei schrecklichen Jahrzehnten für die Weltwirtschaft führte.

Märkte und wirtschaftliche Aktivitäten können einem großen Maß an politischer Belastung und Unsicherheit standhalten – bis zu dem Punkt, an dem die internationale Ordnung zusammenbricht. Die wirtschaftliche Stimmung ist heute beispielsweise durchaus optimistisch. Der Internationale Währungsfonds prognostiziert der Weltwirtschaft im Jahr 2015 ein Wachstum von 4 Prozent, während die Aktienindizes in vielen Teilen der Welt einem Aufwärtstrend  folgen. Tatsächlich erreichte der Dow Jones im Juli ein Allzeithoch.

In den letzten Monaten allerdings wurde in der Ostukraine ein ziviles Passagierflugzeug von einer hochentwickelten, in Russland gefertigten Rakete abgeschossen. Auch die Spannungen rund um die umstrittenen Inseln im Ost- und Südchinesischen Meer haben sich verstärkt und das Chaos im Nahen Osten nimmt ungehindert seinen Lauf. Der israelisch-palästinensische Konflikt befindet sich in der schlimmsten Phase seit Jahrzehnten, wobei die neuerliche Frustration aufgrund der massiven Todeszahlen unter Zivilisten in Gaza wahrscheinlich extreme Reaktionen fördern wird. Die Terroristen stehen möglicherweise kurz davor, noch viel weniger auffindbare  Waffen zu konstruieren.

Es herrschen auch andere, weniger „politische“ Gefahren. Westafrika wird von einem schrecklichen Ausbruch des tödlichen Ebola-Virus heimgesucht, dem tausende Menschen zum Opfer fallen werden. Bislang blieb der Ausbruch regional beschränkt, aber er dient als Erinnerung, dass in Zeiten von Millionen Flugreisenden niemand vor der Ausbreitung von Infektionskrankheiten sicher ist. Die Eindämmung einer Krankheit oder einer terroristischen Bedrohung durch Beschränkungen des internationalen Reiseverkehrs oder des Transportwesens würde die Weltwirtschaft ruinieren.

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Die Entwicklungen im August 1914 sollten uns daran erinnern, dass große Katastrophen schrittweise eintreten können. Führende politische Entscheidungsträger können sich als „Schlafwandler” erweisen, denen es nicht gelingt, die Risiken zu bewältigen, indem sie beispielsweise Institutionen zur Entschärfung konkurrierender Interessen aufbauen, die den internationalen Konflikten zugrunde liegen. Auch die finanzielle Kernschmelze des Jahres 2008 wurde durch schlafwandelnde Politiker verursacht. Die Folgen der Finanzkrise waren zwar nicht tödlich, aber die politischen Auswirkungen von Massenarbeitslosigkeit und die erhöhte Wahrnehmung wirtschaftlicher Unsicherheit begleiten uns noch immer.  

Diese Beispiele sollten weltweit Anlass sein, Möglichkeiten für kooperative Maßnahmen zu finden. Allerdings scheint momentan das Gegenteil der Fall zu sein. Die Vereinten Nationen erscheinen stärker gelähmt als je zuvor.  Der US-Kongress hat das im Jahr 2010 vereinbarte IWF-Reformpaket noch immer nicht ratifiziert und schwächt damit eine der wichtigsten internationalen Institutionen. Teilweise weil die Vereinigten Staaten Kapitalerhöhungen und ordnungspolitische Reformen in globalen Finanzinstitutionen so schwierig machen, haben die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) mittlerweile ihre eigene Entwicklungsbank gegründet, die in Shanghai ihren Sitz haben soll.

Auch die Europäische Union bleibt in kleinlichen Streitigkeiten verstrickt, anstatt als leuchtendes Beispiel supranationaler Zusammenarbeit und konzentrierter Souveränität voranzugehen.  Während man sich noch immer nicht vollständig auf die Gestaltung der Bankenunion einigen konnte, erlaubt man dem Premierminister des Mitgliedslandes Ungarn, Viktor Orbán, die demokratischen und liberalen Grundwerte der EU zu diffamieren.

Der Weg nach vorne darf keine Rückkehr in die Vergangenheit mit aneinander geratenden Nationalstaaten sein.  Die Zukunft kann nur durch die enge Zusammenarbeit derjenigen gesichert werden, die sich ohne Doppelmoral oder Ausreden zu liberaler Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bekennen sowie durch die unermüdliche Stärkung internationaler Institutionen, die diese Werte verkörpern und in die Praxis umsetzen.   

Immer wenn sich eine globale oder regionale Macht in einer Weise verhält, die diesen Werten widerspricht oder sie sich eng mit Ländern verbündet, die derartig agieren, untergräbt sie damit die internationale Ordnung, die für Sicherheit und wachsenden Wohlstand sorgen sollte (und dies bis zu einem gewissen Grad schon getan hat). Die Weltwirtschaft entwickelt sich vielversprechend, aber dieses Versprechen kann nur im Rahmen eines internationalen Systems auf Grundlage von Regeln, Übereinstimmung, Respekt und einem gemeinsamen Gefühl für Gerechtigkeit eingehalten werden.

Wir sollten uns aufgrund der Tatsache, dass die Finanzmärkte vom Chaos im Nahen Osten und von der Krise in der Ukraine offenbar unberührt bleiben, nicht in Selbstzufriedenheit wiegen. Das Gedenken an den August 1914 sollte uns daran erinnern, wie die Welt in die Katastrophe stolperte. Wie wir vom Beispiel des Klimawandels wissen – oder wissen sollten – muss man sich großer Risiken annehmen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit der ungünstigeren Folgen gering ist. 

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/pXZwAb6de