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Haitis Proud Boys

LJUBLJANA: So wie die Dinge derzeit in Haiti ablaufen, könnten die dortigen gewalttätigen Banden nicht nur eine offizielle staatliche Rolle erhalten, sondern sogar selbst die Regierung übernehmen. Nach Inbesitznahme wichtiger Infrastruktur durch die Banden und dem Rücktritt von Premierminister Ariel Henry zeigt Haiti all die bekannten Merkmale eines gescheiterten Staates. Seine Bevölkerung steht vor der tragischen Wahl zwischen der fortgesetzten Herrschaft einer korrupten „demokratischen“ Elite und der direkten Herrschaft sich selbst als „progressiv“ darstellender Banden.

Angesichts des Zusammenbruchs von Recht und Ordnung hat die regionale zwischenstaatliche karibische Organisation CARICOM eine Übereinkunft zur Einrichtung eines Übergangsrates angekündigt, der ein breites Spektrum der politischen und zivilgesellschaftlichen Gruppierungen Haitis repräsentieren soll. Der Rat würde dabei einige Befugnisse ausüben, die regelhaft zum (vakanten) Amt des Präsidenten zugeordnet sind, darunter die Befugnis zur Ernennung eines Übergangspremiers. Von der so geschaffenen Regierung würde erwartet, dass sie früher oder später Wahlen abhält, wodurch ein vollständiger politischer Neustart erreicht würde.

Aber wen werden diese neuen Vereinbarungen mit einschließen? In Haiti herrscht derzeit Ausnahmezustand, nachdem bewaffnete Gruppen Anfang des Monats das größte Gefängnis des Landes attackierten, Polizisten und Gefängnispersonal töteten und fast 4000 Insassen die Flucht ermöglichten. Bandenchef Jimmy „Barbecue“ Chérizier – selbst ehemaliger Polizist – hat die Verantwortung für den Angriff übernommen und zum Sturz der Regierung aufgerufen. Inzwischen kontrollieren die Banden 80 % der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince und halten den wichtigsten Flughafen des Landes besetzt. Letzteres soll Henrys Rückkehr von einer diplomatischen Mission in Kenia verhindern, wo er Verstärkung für die Polizei des Landes zu beschaffen suchte.

Die CARICOM-Übereinkunft schließt alle vorbestraften oder anderweitig sanktionierten Personen aus, also auch Chérizier. Doch ist längst bekannt, dass Chérizier politische Aspirationen hat. Er ist kein bloßer Bandenchef, sondern zugleich ein populistischer Politiker, der 2019 gegenüber einem Reporter äußerte: „Ich würde nie Leute aus meiner eigenen sozialen Schicht abschlachten.“ In diesem Monat erklärte er: „Wir werden den Leute nicht vorlügen, dass wir eine friedliche Revolution haben. Wir haben keine friedliche Revolution. Wir beginnen eine blutige Revolution im Land.“

Chérizier hat sich selbst mit Martin Luther King, Jr., Malcolm X, Che Guevara, Fidel Castro und sogar Robin Hood verglichen. Doch er ist zugleich ein Bewunderer von François „Papa Doc“ Duvalier, dem rechtsstehenden Diktator, der Haiti von 1957 bis 1971 mit eiserner Faust regierte (und die haitianische Gesellschaft dabei ebenfalls durch bewaffnete paramilitärische Gruppen unter Leitung des berüchtigten Tonton Macoutes terrorisierte).

In einer am späten Abend des 11. März veröffentlichten Warnung verkündete Chérizier, das als Viv Ansanm bekannte Bandenbündnis würde eine aus der CARICOM-Übereinkunft hervorgehende Regierung nicht anerkennen, und argumentierte: „Es ist Sache des haitianischen Volkes, die Persönlichkeiten zu bestimmen, die das Land führen.“ In ähnlicher Weise warnt der kürzlich ins Land zurückgekehrte haitianische Rebellenführer Guy Philippe, dass Port-au-Prince niedergebrannt würde, wenn er (Philippe) nicht in die kommende Regierung eingebunden würde.

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Haitis Geschichte ist eine lange Tragödie. Seit mehr als 200 Jahren (seit 1791) wird es für den erfolgreichen Sklavenaufstand bestraft, aus dem es als erste schwarze Republik der Welt hervorging. Zur Zahlung von Reparationen an seine ehemalige Kolonialmacht Frankreich gezwungen, hatte es nur ein einziges Mal die Chance, Wohlstand zu erlangen. Das war, als Jean-Bertrand Aristide und seine Lavalas-Partei vor zwei Jahrzehnten die Macht übernahmen. Doch Aristide – der den USA ein Dorn im Auge war – wurde im Februar 2004 durch einen Putsch gestürzt.

Haiti ist ein Extrembeispiel für ein umfassenderes Phänomen. Gewalttätige Banden haben auch in Ecuador und Mexiko Stadtteile besetzt. Und dann ist da natürlich die Bande von Anhängern des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump, die am 6. Januar 2021 das Kapitol in Washington stürmte. Inzwischen verspricht Trump, dass im Falle seiner Wiederwahl eine seiner ersten offiziellen Amtshandlungen darin bestehen werde, alle für ihre Beteiligung an diesem Angriff verurteilten Personen zu begnadigen.

Die stärkste der Banden, die den Aufstand vom 6. Januar organisierten, sind die Proud Boys, eine ausschließlich männliche neofaschistische Organisation, die offen politische Gewalt propagiert und ausübt. Man erinnere sich an Trumps infame Reaktion, als man ihn 2020 bei einer Präsidentschaftsdebatte auf seine Attraktivität für weiße Suprematisten und paramilitärische Gruppen ansprach: „Proud Boys, stand back and stand by.“ (Proud Boys, haltet euch zurück, und haltet euch bereit.) Die Anführer der Gruppe wurden inzwischen wegen ihres Versuchs, die verfassungsmäßige Übergabe präsidialer Macht zu verhindern, der umstürzlerischen Verschwörung und weiterer Verbrechen gegen die USA für schuldig befunden.

Interessanterweise haben Proud Boys einen Initiationsprozess, der physische Gewalt mit einschließt. Dazu gehört etwa, dass die neu Aufgenommenen geschlagen werden, wenn sie Fragen zu Trivia aus der Popkultur nicht korrekt beantworten. Zudem müssen sich die Mitglieder „der Pornographie enthalten“. So seltsam diese Rituale klingen mögen: Es handelt sich dabei um vertraute Mechanismen. Bruderschaftsrituale spielen die Rolle der Dichtung, so wie sie von Ernst Jünger beschrieben wurde. Jünger war ein zögerlicher Nazi-Mitläufer, der wie die Proud Boys den reinigenden Effekt des militärischen Kampfes pries: „Dem Machtkampf geht Bilderabgleichung und Bildersturz voraus. Das ist der Grund, aus dem wir auf die Dichter angewiesen sind. Sie leiten den Umsturz ein, auch den Titanensturz.“

Gescheiterte Staaten sind heute nicht länger auf einige wenige Ecken des globalen Südens beschränkt. Wenn wir das Scheitern eines Staates an den Rissen in seinem Machtgebäude bemessen – d. h., den Hinweisen auf aufziehende ideologische Bürgerkriege, gelähmten Parlamenten und zunehmend unsicheren öffentlichen Räumen – müssen wir anerkennen, dass auch Frankreich, das Vereinigte Königreich und die USA eindeutig diesem Spektrum zuzuordnen sind. Der norwegische Politologe Jon Elster hatte Recht, als er 2020 schrieb: „Wir können das gängige Diktum umkehren, dass die Demokratie in Gefahr ist, und bekräftigen, dass die Demokratie selbst die Gefahr ist, zumindest in ihrer kurzfristig angelegten populistischen Form.“ Jüngste Erfahrungen geben klare Hinweise darauf, was passieren wird, falls Trump die Präsidentschaftswahl im November gewinnt.

Man kann hier mit Fug und Recht einen alten DDR-Witz paraphrasieren: Wladimir Putin, Xi Jinping und Trump erhalten eine Audienz bei Gott und dürfen ihm jeweils eine Frage stellen. Putin fängt an: „Sag mir: Was wird in den nächsten Jahrzehnten mit Russland passieren?“ Gott antwortet: „Russland wird sich allmählich zu einer Kolonie Chinas entwickeln.“ Putin wendet sich weinend ab. Xi ist an der Reihe und stellt dieselbe Frage über China. Gott antwortet: „Da das chinesische Wirtschaftswunder vorbei ist, wirst du, um zu überleben, zur kompromisslosen Diktatur zurückkehren und zugleich Taiwan um Hilfe bitten müssen.“ Xi wendet sich weinend ab. Als Letzter ist Trump dran: „Und was wird das Schicksal der USA sein, nachdem ich wieder übernehme?“ Und Gott wendet sich weinend ab.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

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