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Wie Europa die Sanktionen gegen Russland aushalten kann

MADRID – Die Entscheidung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, die Ukraine zu überfallen, ist für Europa ein dramatischer Weckruf. Jetzt kann die Europäische Union in der Weltpolitik kein passiver Zuschauer mehr bleiben. Sie muss – innerhalb des weiteren Kontexts der NATO – ihre eigene Sicherheitsstruktur verstärken.

In dieser Hinsicht bietet die COVID-19-Krise wichtige Lektionen: Hinter Europas Pandemiereaktion stand der Grundsatz, dass ein gemeinsamer, symmetrischer und externer wirtschaftspolitischer Schock kohärente interne Lösungen erfordert, die gemeinsam und in gegenseitigem Einverständnis beschlossen werden. So entstand eine politische Einigung, mit Mitteln, die von der Europäischen Kommission erbracht wurden, eine zentralisierte Ausgabeninitiative zu schaffen. Die neue Aufbau- und Resilienzfazilität gab den EU-Mitgliedstaaten die nötigen Ressourcen, um – auch mit Fiskaltransfers – auf die Gesundheitskrise und ihre wirtschaftlichen Folgen reagieren zu können.

Angesichts Putins Blitzkrieg braucht Europa dringend einen ähnlichen Finanzierungsmechanismus für Investitionen in langfristige Sicherheit, um den Mitgliedstaaten zu helfen, die wirtschaftlichen Kosten wirksamer Sanktionen gegen Russland tragen zu können. Die Schritte, die zur geopolitischen Sicherung Europas nötig sind, werden teuer sein und sich nicht lediglich darauf beschränken, unsere alternden militärischen Kräfte zu unterstützen.

Ein Teil der Kosten entsteht durch die Folgen der Sanktionen, und ein anderer Teil durch die Notwendigkeit, sich an die neue geopolitische Umgebung anzupassen. Nicht alle EU-Mitglieder haben genug Haushaltskapazitäten, um diese Ausgaben stemmen zu können. Einige (wie Italien) haben viel höhere Staatsschulden, und andere (wie Deutschland) sind stärker von den Kosten der Sanktionen betroffen.

Darüber hinaus kann sich kein EU-Mitgliedsland wirklich eine schnelle und vollständige Abkehr von russischem Erdgas leisten. Wie der russische Präsident Dmitri Medwedew gedroht hat, könnten die Europäer vor einer Explosion der Gaspreise stehen. Und da auf die Ukraine und Russland zusammen fast 30% der globalen Weizenexporte fallen, wird auch die weltweite Ernährungssituation betroffen sein. Und weil Russland auch noch ein großer Hersteller von Dünger ist, könnten auch dafür die Preise steigen, was das Problem noch verschärfen würde.

Zu den wirtschaftlichen Abwärtsrisiken, die bereits durch die Pandemiefolgen bestehen, kommt daher ein zusätzlicher Inflationsdruck hinzu. Angesichts der Stagflationsgefahr könnte sich der Druck auf die Europäische Zentralbank verschärfen, ihre Geldpolitik zu straffen. Geschieht dies, könnte die Erwartung von Zinserhöhungen einige Länder zu Haushaltskürzungen zwingen, die sinnvolle zusätzliche Sicherheitsausgaben unmöglich machen.

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Trotzdem ist es wichtiger denn je, dass ein vereintes Europa ausreichend starke Sanktionen gegen Russland verhängt und die kurzfristigen Probleme durch russische Gegensanktionen abmildert. Da die europäischen Gasspeicher immer noch zu 30% gefüllt sind und die Möglichkeit besteht, zusätzliches Flüssiggas (LNG) zu beziehen, könnte Europa selbst bei einer vollständigen Unterbrechung der russischen Gasversorgung den Winter überstehen. Aber um dieses schlimmste Szenario bewältigen zu können, müssen die europäischen Länder Solidarität zeigen, indem sie knappe Ressourcen mit jenen teilen, die sie am nötigsten haben – und die am stärksten betroffenen Länder mit EU-Mitteln finanziell unterstützen.

Danach werden zwei Maßnahmen erforderlich sein, um im Energiebereich längerfristige Solidarität zu gewährleisten: Erstens müssen die EU-Länder (endlich) die Gasverbindungen aufbauen, die ihren Energiemarkt flexibler und schockresistenter machen. Beispielsweise könnten Pipeline-Verbindungen mit Spanien und Frankreich dem restlichen Europa ermöglichen, die umfangreiche LNG-Infrastruktur der iberischen Halbinsel zu nutzen.

Zweitens müssen die EU-Länder die Speicherung von Gas als strategisches Ziel betrachten. Die Unternehmen, die Speicherstätten besitzen, sollten veranlasst werden, sie vor jedem Winter zu füllen, und die EU-Mitgliedstaaten müssen erwägen, ein regionales strategisches Gasspeichersystem aufzubauen, das der Strategischen Ölreserve der USA ähnelt.

Außerdem muss sich Europa darauf vorbereiten, Kriegsflüchtlinge aufzunehmen. Dazu ist ein Mechanismus nötig, mit dem möglicherweise Millionen von Flüchtenden innerhalb der Union verteilt und die Aufnahmeländer finanziell unterstützt werden können. Dies könnte sich an der SURE-Initiative (Support to mitigate Unemployment Risks in an Emergency) der EU orientieren, die während der Pandemie eingeführt wurde, um die nationalen Sozialversicherungssysteme zu stärken.

Darüber hinaus dürfen westliche Unternehmen und Finanzinstitutionen, die von den Folgen des Krieges und der neuen Sanktionen hart getroffen werden, nicht in Liquiditätsnöte geraten. Die russische Wirtschaft wird wahrscheinlich abrupt von den westlichen Märkten getrennt, und mit der ukrainischen Wirtschaft wird es schnell bergab gehen. Von dieser Entwicklung werden auch viele westliche Unternehmen betroffen sein – und Zeit und Unterstützung dafür benötigen, ihre Vermögenswerte und Unternehmenspläne neu auszurichten.

Hier sollte Europas Antwort auch darin bestehen, entsprechend der Artikel 107(3) und 109 des Vertrags über die Funktionsweise der Europäischen Union neue Ausnahmen für staatliche Hilfe zu aktivieren. Aber dies ist noch nicht genug. Den Staatshilferahmen völlig außer Kraft zu setzen könnte – wie bei der COVID-19-Krise – zu einem Szenario führen, in dem reiche Länder ihre Märkte viel besser abschirmen können als ärmere, was den Wettbewerb im Binnenmarkt untergraben könnte. Daher braucht Europa eine Einrichtung, die alle betroffenen Unternehmen und Finanzinstitutionen gleichermaßen unterstützt.

Und schließlich dürfen wir nicht davor zurückschrecken, die alternde europäische Militärinfrastruktur zu erneuern. Bereits in der Vergangenheit haben die EU-Länder bei bestimmten Projekten von einer gemeinsamen militärischen Beschaffung über die Europäische Verteidigungsagentur profitiert. Dieser Ansatz muss nun erheblich ausgeweitet und durch gemeinsame Ressourcen unterstützt werden – mit der Regel, dass alle erworbenen Mittel dazu verwendet werden, die nationalen Einheiten, die an einer Verteidigung auf EU-Ebene beteiligt sind, mithilfe von EU-Kampfgruppen- oder NATO-Aufträgen zu reformieren und zu modernisieren.

Die Aufbau- und Resilienzfazilität gegen COVID-19 war erfolgreich, weil sie bei der Lösung eines gemeinsamen Problems unterschiedliche Interessen berücksichtigt hat. Jetzt sollte sie durch ein Sicherheitsprogramm ergänzt werden, um für die schwierigen Maßnahmen, die zur Beibehaltung einer gemeinsamen Front gegen Russland nötig sind, finanzielle Unterstützung zu bieten. Zusätzlich zu Krediten, um kurzfristige Probleme wie Illiquidität zu lösen, muss es gemeinsame Ausgaben geben, um mittelfristig strukturelle Anpassungsmaßnahmen zu finanzieren – insbesondere zur Unterstützung von Verteidigungsausgaben, Flüchtlingsumsiedlung und der Energiewende.

Dementsprechend sollte diese Einrichtung mit EU-Anleihen finanziert werden, die zum Kauf durch die EZB geeignet sind – und damit der EU auch als ein dringend benötigtes Safe Asset dienen.

Durch die russisch-ukrainische Krise müssen die europäischen Länder neu darüber nachdenken, wofür sie ihre Haushalte verwenden und wie sie wichtige Sektoren verwalten, von denen einige nur lose mit Verteidigung und Sicherheit verbunden sind. Dieser Wandel ist nicht freiwillig, sondern eine notwendige Reaktion auf dunkle Zeiten.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

https://prosyn.org/ve7QZyZde