74f2260346f86f680ed3c405_dr3742c.jpg Dean Rohrer

Italien als Europas Muse?

ROME – Die von der griechischen Staatsschuldenkrise ausgelöste Ansteckung im Euro-Raum hat nun Italien erfasst. Zusammen mit einer haushaltsbewussten Opposition gelang es Silvio Berlusconis Regierung, innerhalb von nur wenigen Tagen die Zustimmung des Parlaments zu einem Maßnahmenpaket in der Höhe von 50 Milliarden Euro zu erlangen. Mit diesem Paket soll das Vertrauen der Märkte und die Solidität der wirtschaftlichen Grundlagen in Italien wiederhergestellt werden.  

In Ermangelung eines starken und glaubwürdigen Engagements der EU, dieser Ansteckung Einhalt zu gebieten, gehen andere von der Staatsschuldenkrise betroffene Länder der Eurozone ähnlich vor. Aber Finanzier George Soros hat recht: Europa braucht einen „Plan B“. Die schwere Krise der Eurozone und der Europäischen Union darf nicht ungenutzt bleiben. Vielmehr muss sie herangezogen werden, um Europa auf seinem Weg in Richtung Integration voranzubringen, damit in der Union keine Gegenbewegung einsetzt.

Als der Euro ins Leben gerufen wurde, waren sich seine Architekten sehr wohl bewusst, dass in der Geschichte keine Währungsunion ohne politische Union erfolgreich war. Dennoch setzte man die Hoffnungen auf die Existenz eines großen europaweiten Marktes und die Zusagen der Eurozonen-Mitglieder, ihre Haushaltsdefizite, Staatsschulden und die Inflation unter Kontrolle zu halten. Aber mehrere Länder der Eurozone hielten nicht Wort und die Krise rund um deren Staatsschulden gefährdet nun das Überleben der Eurozone als Ganzes.

Da die Koordination zwischen den souveränen Staaten offenkundig nicht funktioniert, bleiben nur mehr zwei Möglichkeiten. Eine davon ist, dass die Eurozonen-Mitglieder souverän bleiben und ihre Währungskompetenzen zurückverlangen. Dies würde nicht nur den Tod des Euro, sondern auch eine Bedrohung des Binnenmarktes und der schieren Existenz der EU bedeuten. Die andere Möglichkeit ist, mehr Souveränitätsrechte an die EU abzugeben. Dies impliziert nicht nur das Überleben des Euro, sondern auch die – vielleicht noch wichtigere – Geburt einer europäischen politischen Union.

Diese Option kristallisiert sich für alle sichtbar heraus. Sowohl EZB-Präsident Jean Claude Trichet als auch Jacques Attali, Gründungspräsident der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, fordern nun offen die Gründung eines europäischen Finanzministeriums. Der eiskalt technokratische und apolitische Internationale Währungsfonds geht in seinem jüngsten Bericht über die Eurozone sogar so weit, eine „politische Union und eine Ex-ante-Risikoverteilung” als Vorbedingungen für eine funktionierende Währungsunion zu erwähnen.

Allerdings haben nur wenige Menschen genau nachgedacht, wie ein politisch vereintes Europa aussehen würde. Die meisten gehen nämlich implizit von einer massiven Übertragung beinahe aller Regierungsaufgaben von den Mitgliedsländern an ein föderales Zentrum und daher von der Schaffung eines „europäischen Superstaates“ aus.

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Wir glauben aber vielmehr, dass ein „Bundesstaat light“ mit einem auf etwa 5 Prozent des europäischen BIP begrenzten Haushalt (verglichen mit beinahe der Hälfte des BIP in den meisten EU-Ländern) eine realistische politische Union ermöglichen würde. Diese Ressourcen – 600 bis 700 Milliarden Euro – würden die nationalen Haushalte nicht belasten, sondern entlasten, da dies von der Übertragung einiger Regierungsfunktionen begleitet wäre. In manchen Fällen würde dies auch Größenvorteile mit sich bringen.

Man denke an den Bereich Verteidigung. Anstatt der größtenteils irrelevanten und ineffizienten nationalen Streitkräfte wäre eine einzige EU-Armee mit einem Budget von etwa 1 Prozent des EU-BIP – also ungefähr 130 Milliarden Euro – hinsichtlich Ressourcen und hoffentlich auch Fähigkeiten, sofort die zweite führende Militärmacht nach den USA. Ausgehend von einem Einheitssatz nationaler Beiträge zum Bundeshaushalt würde Griechenland beispielsweise 2 bis 3 wertvolle Prozentpunkte seines staatlichen Defizits loswerden.

Zusätzlich zu den Bereichen Verteidigung und Sicherheit, hätte auch die Übertragung anderer Kompetenzen an die bundesstaatliche Ebene durchaus Sinn. Anbieten würden sich dabei Diplomatie und Außenpolitik (einschließlich Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe), Einwanderungspolitik, Grenzkontrollen, manche Infrastruktur-Projekte mit europaweiten Netzwerkeffekten, Großprojekte in Forschung und Entwicklung sowie regionale Umverteilung.

Diese Regierungsfunktionen und ein Bundeshaushalt in dieser Größenordnung würden natürlich so etwas wie einen Finanzminister erfordern. Das wäre es auch wirklich wert: Eine kritische Masse von 600-700 Milliarden Euro würde nötigenfalls eine makroökonomische Stabilisierung und Umverteilung ermöglichen und zwar ohne Ad-hoc-Mechanismen oder, noch schlimmer, den Medienrummel rund um alle EU-Gipfel, die einberufen werden, um das nächste Hilfspaket für ein finanziell in Schieflage geratenes Land zu beschließen.

Momentan wird vor allem in Deutschland der Ausdruck „Transferunion“ als abwertendes Synonym für eine Föderation verwendet. Wir räumen ein, dass die Übertragung von Ressourcen von einem Ort zum anderen nicht der Daseinszweck einer politischen Einheit sein kann. Das können nur spezielle Regierungsfunktionen sein. Werden allerdings einige dieser Regierungsfunktionen auf eine bundesstaatliche Regierungsebene übertragen, steht das zusätzliche Instrument einer Ressourcenübertragung zur Verfügung, um für diese Aufgaben zu bezahlen. Wenn nötig, sollten Staaten, die gerade einen Boom erleben, stärker besteuert werden, als solche, die sich gerade in einem Abschwung befinden.

Diese Umverteilung ist in jedem Bundesstaat, einschließlich den USA, reine Routine und die Öffentlichkeit nimmt davon wenig bis gar keine Notiz. Die Regierung und die Menschen in New York protestieren nicht, weil Mississippi im Vergleich zu seinen Beiträgen viel mehr Mittel aus dem Bundeshaushalt bekommt als die New Yorker.

Trotz der heutigen Probleme ist die Eurozone nicht nur reicher, sondern wirtschaftlich auch gesünder als die meisten anderen Länder und Regionen. Die größte Bedrohung für den Euro ist der Mangel an einem Mindestmaß politischer Union – einem Bundesstaat light, der Solidarität ermöglicht und nötigenfalls sogar automatisiert.  

In diesem Sinne könnte sich die Aussicht auf eine dräuende umfassende italienische Schuldenkrise als Vorteil erweisen, wenn es darum geht, den europäischen Geist zu fokussieren. Das Motto E pluribus unum muss nicht auf Euro-Noten und Münzen geprägt werden, um zu erkennen, dass der Sinn dieses Wahlspruchs – die politische Vereinigung Europas nach dem Vorbild der USA – unverzichtbar für das Überleben des Euro ist.  

https://prosyn.org/6KxCmGvde