davies91_Dursun AydemirAnadolu via Getty Images_draghi Dursun Aydemir/Anadolu via Getty Images

Die fehlende Zutat europäischer Wettbewerbsfähigkeit

LONDON: Seinen drastischen Formulierungen nach zu urteilen, hatte Mario Draghis großer Bericht über die europäische Wettbewerbsfähigkeit eindeutig das Ziel, die Aufmerksamkeit der EU-Entscheidungsträger zu erregen. Statt zu versuchen, die Lage zu beschönigen, warnt er, dass Europa immer weiter hinter die USA zurückfällt. Es habe nicht nur die digitale Revolution weitgehend verpasst, sondern sei auch im Begriff, die KI-Revolution zu verpassen. Kein einziges europäisches Technologieunternehmen könne mit Unternehmen wie Apple oder Microsoft mithalten.

Zudem stellt Draghi fest, dass das Produktivitätswachstum auf dem gesamten Kontinent hinter dem der USA zurückbleibt. Dies stelle die Europäische Union vor eine „existenzielle Herausforderung“. Ohne eine „radikale“ Kursänderung würde sie ihre „Daseinsberechtigung“ verlieren. Das war ein außergewöhnlich lauter Weckruf, wie ihn manche Wecker von sich geben, wenn man ihre ersten höflichen Töne ignoriert.

Draghis Schlussfolgerungen werden Musik in den Ohren der schwindenden Schar der Brexit-Befürworter im Vereinigten Königreich sein, die schon immer mit der europäischen Sklerose hausieren gingen. In ihren Plädoyers für den Austritt argumentierten sie, dass das Vereinigte Königreich an ein gescheitertes Projekt gebunden sei und sich davon befreien müsse.

Draghi ist jedoch weder Euroskeptiker noch Anhänger des Subsidiaritätsprinzips, und die meisten seiner Empfehlungen würden „mehr Europa“ in Form koordinierter politischer Maßnahmen und einer enormen Steigerung öffentlich finanzierter Investitionen auf EU-Ebene erfordern. Er argumentiert, dass, um das Produktivitätsproblem zu lösen und den Übergang zu einer grünen Wirtschaft voranzutreiben, dringend zusätzliche Investitionen in Höhe von 800 Milliarden Euro erforderlich seien. Wie vorauszusehen stieß dieser Vorschlag in Rom auf Begeisterung, in Paris auf vorsichtige Zustimmung und in Berlin auf Protestgeschrei.

Doch spricht Draghi in gesonderten Kapiteln, die weniger Aufmerksamkeit erregt haben, auch die Finanz- und Regulierungsstruktur der EU an. Er ist der Meinung, dass Europa zu sehr von der Bankenfinanzierung abhängig ist, und damit hat er eindeutig recht. Neue Wachstumsunternehmen (von denen es viel weniger gibt als in den USA) werden in der Regel von US-Risikokapitalgebern finanziert, und 30 % der Euro-Unicorns (private Start-ups mit einer Marktbewertung von einer Milliarde Dollar oder mehr) haben ihren Sitz über den Atlantik verlegt, sobald der Markt ihr Potenzial erkannte.

Der Hauptgrund für diesen traurigen Zustand ist die anhaltende Fragmentierung der europäischen Kapitalmärkte. Der Plan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion ist seit seiner Lancierung im Jahr 2015 (durch Jonathan Hill, den damaligen britischen Kommissar in Brüssel) kaum vorangekommen. Ein Teil des Problems ist politischer Natur. Viele EU-Politiker, insbesondere die linksgerichteten Mitglieder des Europäischen Parlaments, bleiben misstrauisch gegenüber Verbriefungen (einer zentralen Säule des Plans), weil sie das Konzept weiterhin mit der Subprime-Hypothekenkrise in den USA in Verbindung bringen.

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In jedem Fall gibt Draghi der Initiative einen neuerlichen Schub, da er anerkennt, dass dies die einzige Möglichkeit ist, der übermäßigen Abhängigkeit der europäischen Unternehmen von Bankfinanzierungen zu begegnen. Aber er sieht auch das Fehlen einer starken Wertpapieraufsichtsbehörde als weiteren großen Teil des Problems an.

Dieser Gedanke ist nicht neu. Vor etwa 15 Jahren empfahl Jacques de Larosière, ehemaliger Präsident der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, in seinem Bericht über die Finanzregulierung im Gefolge von 2008 eine europäische Börsenaufsicht. Stattdessen schuf die EU mit der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) eine Zwischenlösung.

Die ESMA leistet nützliche Arbeit und hat sich als wichtiger Bestandteil der EU-Finanzarchitektur etabliert. Sie ist jedoch weit davon entfernt, ein europäisches Gegenstück zur amerikanischen SEC zu sein. So beaufsichtigt sie beispielsweise direkt die Rating-Agenturen und einige andere europaweite Einrichtungen, nicht aber die lokalen Börsen. Daher unterscheiden sich die Methoden der Kapitalbeschaffung von Land zu Land, was ein ernsthaftes Handicap für aufstrebende Unternehmer und die meisten Kapitalgesellschaften darstellt.

Auch wenn die Kampagne zur Schaffung einer durchschlagskräftigeren Behörde nicht neu ist, hat sie in letzter Zeit an Stärke gewonnen. Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, hat dieselbe Empfehlung ausgesprochen, und ihre Aufnahme in Draghis Bericht setzt sie klar auf der Tagesordnung der neuen EU-Kommission unter Ursula von der Leyen.

Doch selbst mit derart starker Rückendeckung ist der Erfolg nicht gesichert. Die Schaffung eines mit allen vorgeschlagenen Befugnissen ausgestatteten bevollmächtigten Organs würde eine Vertragsänderung erfordern, und der Europäische Rat hat derartige Schritte seit dem Vertrag von Lissabon (2009) vermieden. Viele europäische Staats- und Regierungschefs fürchten, dass eine Überarbeitung der grundlegenden EU-Verträge Fragen aufwerfen könnte, die sie lieber nicht angehen würden. Einige Länder lehnen es unweigerlich ab, einer zentralisierten Behörde neue Befugnisse einzuräumen, und einige müssten zur Ratifizierung des Vertrags ein Referendum abhalten, was ähnlich wie beim Brexit subversiven Kräften die Möglichkeit geben würde, sich zu formieren. Zudem sind die meisten Volksabstimmungen zur europäischen Integration im ersten Anlauf gescheitert.

Dennoch ließe sich auch ohne einen neuen oder überarbeiteten Vertrag eine Menge erreichen. Eine der wichtigsten Empfehlungen Draghis besteht darin, die Führungsstruktur der ESMA derjenigen der EZB anzugleichen. Ihr Rat wird von Vertretern der Aufsichtsbehörden der Mitgliedstaaten dominiert, während das Direktorium der EZB sechs Personen umfasst, die im europäischen Interesse und nicht im Interesse ihres Heimatlandes handeln müssen.

Es ist zudem möglich, die europäischen Börsen und Clearingsysteme in die Zuständigkeit der ESMA zu überführen. Dies wäre jedoch kein trivialer Schritt. Würde die französische Regierung zulassen, dass die Bourse de Paris von einer europäischen Aufsichtsbehörde beaufsichtigt wird, selbst wenn diese ihren Sitz in Paris hätte? Die deutsche Bundesregierung steht einer grenzüberschreitenden Fusion von UniCredit und Commerzbank offen ablehnend gegenüber, obwohl Letztere eine Neuausrichtung dringend nötig hätte. Würde sie zulassen, dass die Deutsche Börse von Paris aus reguliert wird?

Wenn die Mitglieder des Europäischen Rates wirklich eine Kapitalmarktunion wollen, müssen sie nationale Erwägungen beiseitelassen und ihren Stolz herunterschlucken. Die kommenden Monate werden uns zeigen, wie ernst es ihnen in einer Welt, in der sie immer weiter zurückfallen, mit der Wiederherstellung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit ist.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/LUB3CNxde