e90dc30346f86f380eca4419_pa751c.jpg Paul Lachine

Ergänzung der G-20-Agenda

NEW YORK – Der beinahe vollständige Zusammenbruch der weltweiten Finanzsysteme hat die grundlegenden Schwächen ihrer Architektur und Regulierung zu Tage gefördert. Durch die Forderung nach Maßnahmen „zum Schutz gegen systemische Risiken“ hat man auf dem G-20-Gipfel den Prozess des Wiederaufbaus eingeläutet. Man erkennt, dass nicht nur einzelne Institutionen, sondern das System als Ganzes reguliert werden muss.

Unglücklicherweise finden sich im G-20-Kommuniqué aber nur jene Rezepte für das Management systemischer Risiken, die das Forum für Finanzstabilität, die US-Notenbank Federal Reserve und andere schon vorgebracht haben. Diese Vorschläge konzentrieren sich auf Probleme, die durch mangelnde Transparenz, übermäßige Verschuldung, überdimensionierte Finanzinstitutionen, Steuerparadiese, schlechte Anreize für Manager in der Finanzwelt und Interessenskonflikte der Ratingagenturen verursacht wurden. Das ist alles sehr wichtig, aber ein wesentlicher Punkt wird dabei außer Acht gelassen.

Niemand bestreitet, dass der dramatische Einbruch bei Haus- und Aktienpreisen im Vorjahr nach langen Jahren des – weit über historische Preisniveaus hinausgehenden – Aufschwungs dazu beitrug, die Krise auszulösen und sie zu nähren. Da die Talfahrt weiter anhält, besteht die Gefahr, dass auch diese Situation exzessiv ausartet und somit das Finanzsystem und die Wirtschaft noch tiefer in die Krise zieht.

Zur Beschränkung systemischer Risiken bedarf es daher nicht nur der Sicherstellung von Transparenz und Kontrolle der Schulden, sondern auch der Erkenntnis, dass sich diese Risiken je nach Höhe der Preise für Vermögenswerte verändern. Hätten die schwer von der Krise betroffenen Institutionen dies früher verstanden, hätten sie auch ihre Kapitalpuffer während der Phase des Preisanstiegs bei Häusern und Aktien angehoben, um sich gegen die unvermeidbare Gegenbewegung zu wappnen. Das haben sie nicht getan, wie wir jetzt wissen.  

Ein Grund dafür ist die erste Säule von Basel II, in der dargelegt ist, wie Banken auf der ganzen Welt ihre Kreditrisiken zu bewerten und das Ausmaß ihrer Kapitalpuffer zu bestimmen haben, wo aber den langfristigen Fluktuationen auf den Kapitalmärkten nicht explizit Rechnung getragen wird. Vielmehr verlässt man sich auf Value-at-Risk-Verfahren, die das Risiko mit den bekannten Vorstellungen kurzfristiger Marktvolatilität in Zusammenhang stellen.

Das Problem ist, dass man bei diesen Maßnahmen implizit davon ausgeht, dass das Risiko sinkt, wenn es den Märkten gut geht: In  ruhigen Zeiten wird weniger Kapital verlangt als während volatilerer Phasen. Letztlich nimmt man an, dass Kapitalverluste zufällig auftreten, so dass dramatische Einbrüche und Verluste, die üblicherweise nach exzessiven Preisanstiegen eintreten, in den Risikokalkulationen keine Berücksichtung finden.

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Weil das Maß für die Wahrscheinlichkeit eines Zahlungsausfalls sinkt, wenn es der Wirtschaft gut geht und im umgekehrten Fall ansteigt, neigen die auf diesen Kennzahlen beruhenden  Eigenkapitalanforderungen sich prozyklisch zu verhalten. Dadurch allerdings steigt das systemische Risiko anstatt zu sinken. 

Die G-20 fordern nun eine Revision der Basel II-Richtlinien, um die Eigenkapitalanforderungen antizyklisch zu gestalten und die Erfahrungen Spaniens mit derartigen Anforderungen deuten darauf hin, dass dies ein Schritt in die richtige Richtung ist. Allerdings wird eine derartige Überarbeitung von Basel II nicht reichen, denn die Portefeuilles der Banken – vor allem der internationalen Banken mit starkem Engagement im Wertpapierbereich – sind sehr anfällig für die aus den langfristigen Fluktuationen auf den Kapitalmärkten stammenden Risiken.

Deshalb ist es mit antizyklischen Maßnahmen allein nicht getan. Auch Eigenkapitalanforderungen für Banken sollten umgekehrt zu den Boom-und-Bust-Fluktuationen auf den Kapitalmärkten variieren, denen sie in hohem Maße ausgesetzt sind. Während einer Phase exzessiver Vermögenspreisanstiege müssen die Banken ihre Vorkehrungen verstärken, um in der Lage zu sein, unvermeidliche Abwärtsentwicklungen zu überstehen.

Der Zusammenhang zwischen finanziellem Risiko und Vermögenspreisänderungen wird aufgrund eines neuen Ansatzes – der Imperfect Knowledge Economics (IKE) – hergestellt, mit dem man ein Verständnis für Risiken und Fluktuationen auf den Kapitalmärkten entwickelt. Aus diesem Ansatz ergibt sich, dass man zur Verminderung des systemischen Risikos mehr tun kann als die Art der Risikobewertung und Bestimmung der Kapitalpuffer zu reformieren.  

Die Theorie der IKE besagt, dass der Markt innerhalb eines sinnvollen Bereichs viel besser (wenn auch nicht perfekt) geeignet ist, Preise festzusetzen als Regulierungsbehörden. Allerdings wird auch erkannt, dass Preisänderungen exzessive Ausmaße annehmen können, wenn Marktteilnehmer Vermögenspreise weit über ihren langfristigen Wert hinaus in die Höhe treiben.

Die Geschichte lehrt uns, dass derartige Veränderungen nicht nachhaltig sind. Je exzessiver sich diese Veränderungen entwickeln, desto abrupter und kostspieliger fällt der mögliche Rückgang aus – und desto gravierender auch die Konsequenzen für das Finanzsystem und die Wirtschaft. Die Lehre aus dieser Krise ist, dass übermäßige Veränderungen durch eine Reihe regulierender Maßnahmen gedämpft werden müssen.

Eine mögliche Maßnahme wären „Bereichsvorgaben“ für Vermögenspreise mit zielorientierten Schwankungsbreiten hinsichtlich der Mindesteinschuss- und Eigenkapitalanforderungen. Dies nicht um Bewegungen außerhalb dieser Bereiche zu eliminieren, sondern um sie zu dämpfen. Das wesentlichste Merkmal dieser Maßnahmen ist, dass sie, je nach dem, ob eine Anlage im Verhältnis zur Bereichsvorgabe unter- oder überbewertet ist, unterschiedlich angewendet werden. Ziel ist es, keinen Anreiz für einen Handel zu bieten, durch den die Preise weiter aus dem akzeptablen Bereich gedrängt werden, und jenen Handel zu fördern, der den Preisanstieg dämpft.

Die Verbesserung der Fähigkeit von Finanzmärkten zur Selbstkorrektur, um zu nachhaltigen Preisen zu gelangen, ist der wesentliche Punkt der Regulierung. Im Gegensatz dazu könnten – die von mancher Seite vorgeschlagenen - umfassenden Beschränkungen von Leerverkäufen (und anderer derartiger Maßnahmen, die keine Rücksicht auf die Über- oder Unterbewertung einer Anlage nehmen) sogar zu noch größerer Instabilität führen. Regulierungen, die unter gewissen Umständen vorteilhaft sind, können sich in anderen Situation als kontraproduktiv erweisen. Die Vorstellung, dass fixe Regeln alles sind, was wir momentan brauchen, ist nicht zielführend.

Unglücklicherweise hat die moderne ökonomische Theorie, mit ihrer Annahme der perfekten Preisfindung an den Kapitalmärkten, die Ökonomen und politische Entscheidungsträger davon abgehalten, ihre Aufmerksamkeit auf die Rolle der Vermögenspreisänderungen zur Bewältigung systemischer Risiken zu lenken. Die aktuelle weltweite Krise zeigt, dass wir es uns nicht mehr leisten können, diesen entscheidenden Faktor außer Acht zu lassen.

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