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Der globale Kampf um die technologische Vorherrschaft

PALO ALTO: Das vergangene Jahr hatte einige alte Lehren über den Wettbewerb zwischen Großmächten für uns parat. Aber es hielt auch einige neue Lehren bereit, wie die Technologie das strategische Terrain verändert.

Es besteht kein Zweifel mehr über die von China, Russland und anderen autoritären Regimen ausgehende Herausforderung für die internationale Rechtsordnung, den Respekt für die Souveränität anderer Staaten, demokratische Grundsätze und die Freiheit der Menschen. Diese Bedrohungen haben zugenommen, da China und Russland inzwischen neue Technologien nutzen, um ihre Bevölkerungen zu überwachen, Informationen zu manipulieren und Datenströme zu steuern. Sie zeigen damit beispielhaft, wie autoritäre Regierungen die Gedankenfreiheit, die freie Meinungsäußerung und die Assoziationsfreiheit weiter einschränken können.

Wachsende geopolitische Spannungen gehen dabei mit zunehmenden Übergriffen disruptiver Technologien auf alle Aspekte des öffentlichen und privaten Lebens einher. Die Auswirkungen für 2023 und darüber hinaus sind klar: Die Technologie-Plattformen der Zukunft sind das neue Terrain des strategischen Wettbewerbs. Die USA haben daher ein zentrales Interesse daran, sicherzustellen, dass diese Technologien von Demokratien entwickelt, gebaut, eingesetzt und reguliert werden.

Das Fenster in die Zukunft der Ukraine

Im Widerstand der Ukraine gegen die russische Invasion (mit beträchtlicher Unterstützung anderer Demokratien) kristallisiert sich heraus, wie die Technologie die Geopolitik verändert. Ein hochgradig vernetztes, technologieaffines Land fand sich rasch zusammen gegen einen viel größeren Feind, der zunächst über einen überwältigenden militärischen Vorteil zu verfügen schien. Die Ukraine ist nun dabei, den weltersten digital vernetzten Krieg zu gewinnen, weil sie Innovationen im Bereich der Software nutzt und in größtmöglichem Umfang Open-Source-Technologie und dezentralisierte Operationen einsetzt. Die Bündelung aller ihrer technologischen Fähigkeiten ermöglicht ein ununterbrochener Internetzugang.

Die Ukraine bietet zudem einen flüchtigen Blick darauf, wie eine technologiegestützte Demokratie aussehen könnte: Cloudgestützte Dienste versetzen die Regierung in die Lage, sich direkt mit den Bürgern zu vernetzen, und zwar überwiegend durch alltägliche Geräte wie private Telefone mit integrierter Verschlüsselung und Datenschutz-Software. Junge, innovative politische Führer und Entscheidungsträger arbeiten eng mit einer technologisch beschlagenen Erwerbsbevölkerung zusammen und räumen auf mit Jahrzehnten bürokratischer Lähmung. Wenn die Ukraine unter Kriegsbedingungen die Innovation vorantreiben kann, können und sollten alle anderen Demokratien auch dazu imstande sein.

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Große und kleine Unternehmen aus der demokratischen Welt auf beiden Seiten des Atlantiks unterstützen die technologisch ausgerichtete Transformation der Ukraine und haben sich dabei selbst als wichtige strategische Akteure erwiesen. Sie haben wichtige ukrainische Regierungs- und Finanzdaten durch Verschieben in die Cloud frühzeitig geschützt, sie warnten vor und boten Hilfestellung bei russischen Cyber-Angriffen, und sie halfen mit, die Ukrainer in Kontakt miteinander und an das globale Internet angeschlossen zu halten, damit die Welt von Russlands Lügen, Kriegsverbrechen und militärischen Rückschlägen erfuhr. Ohne dieses breitere Ökosystem und den Zugriff zu Technologie-Plattformen hätte der Konflikt womöglich einen ganz anderen Verlauf genommen.

Aber nun stellen Sie sich eine Zukunft vor, in der autoritäre Staaten die Technologien und Unternehmen kontrollieren, die den Netzwerkzugang beaufsichtigen, Netzwerke vor Cyber-Bedrohungen schützen, wichtige digitale Infrastruktur errichten, festlegen, welche Nachrichten zensiert werden sollen, und den Fluss sensibler Daten steuern. Das wäre eine Welt des systematischen Zwangs und der Eingriffe in die Privatsphäre der Menschen, in der grundlegende Schutzmechanismen für die freie Meinungsäußerung ausgelöscht wurden. Weder die Ukrainer noch irgendein anderes demokratisches Gemeinwesen würde sein Schicksal noch selbst bestimmen.

Wir sollten Chinas Erfolg beim Export integrierter Netzwerklösungen, die Hardware, Software und Services für Kunden in aller Welt bündeln, ernst nehmen. Diese erweitern den Einfluss der chinesischen Regierung und verschaffen ihr einen Vorteil gegenüber den USA und anderen Demokratien nicht nur im Technologie-Wettrennen, sondern auch im breiteren geopolitischen Konkurrenzkampf. Man kann nicht einfach davon ausgehen, dass die Vorteile der westlichen Unternehmen in Bereichen wie Cloud-Technologie, Rechenzentren und sozialen Medien von Natur aus Bestand haben werden.

TikToks kometenhafter Aufstieg und die dadurch bedingten  nationalen Sicherheitsbedenken sind ein Musterbeispiel hierfür. Chinas Fortschritte in den Bereichen Fintech, E-Commerce und bei anderen Plattformen – auf Netzwerken, die von in China ansässigen Unternehmen verwaltet und mit in China oder in seinem Schatten hergestellter Hardware betrieben werden – bieten eine Vorschau darauf, wie umkämpft die Zukunft sein wird.

Lehren für Demokratien

Für die Demokratien der Welt sind die politischen Herausforderungen klar. Erstens müssen wir unseren Ansatz der Nichteinmischung bei der technologischen Entwicklung aufgeben. Die oben beschriebenen gefährlichen Entwicklungen fielen in eine Zeit, in der die USA in der Technologie-Strategie einen Laissez-faire-Ansatz verfolgten. In zentralen Bereichen der Hardware-, Software- und Netzwerkentwicklung mussten die USA und ihre Partner von einer defensiven Position aus reagieren. Dies war der Fall bei der US-geführten Kampagne gegen Huaweis Pioniervorteil bei 5G, der Investitionsspritze im Volumen von 52,7 Milliarden Dollar für die US-Halbleiterproduktion des CHIPS Act (die inzwischen anderswo im Westen kopiert wird) und Amerikas verspätetem Bemühen zur Entwicklung einer umfassenden nationalen KI-Strategie. Diese reaktiven Maßnahmen haben lediglich eine Katastrophe verhindert, statt für Optimismus zu sorgen, dass wir für die Zukunft bereit sind.

Zweitens sollten die USA und ihre Partner die „nächsten Chips“ ermitteln und die staatliche Ordnungspolitik entsprechend ausrichten. Wir brauchen ein reproduzierbares öffentlich-privates Modell zur Entwicklung und Umsetzung einer langfristigen nationalen Technologie-Strategie. Die politischen und wirtschaftlichen Risiken hoher öffentlicher Investitionen in bestimmten Sektoren verblassen im Vergleich zu den Risiken, die damit verbunden sind, einem strategischen Rivalen zentrale technoindustrielle Funktionen zu überlassen oder diese der akuten Gefährdung durch Engpässe in der Lieferkette auszusetzen.

Die USA und ihre Verbündeten bewegen sich in die richtige Richtung, indem sie eine verstärkte Förderung und Verarbeitung der für die Produktion von Zukunftstechnologien entscheidenden Mineralien unterstützen. Doch könnte es noch weitere Hardware-Fertigungsbranchen geben, die mehr Aufmerksamkeit und höhere Investitionen verdienen. Zum Beispiel sollte der Westen sehr besorgt sein über Chinas Dominanz in den Wertschöpfungsketten für Batterien und Photovoltaik.

Drittens müssen Amerika und seine Partner die nächsten „Technologie-Offsets“ ermitteln und die Entwicklung und den Einsatz dieser Technologien beschleunigen. Zu versuchen, die Fertigungsbasis für jede Technologie in demokratischen Ländern zu replizieren ist unrealistisch und vermutlich unbezahlbar. Stattdessen sollten die USA und ihre Verbündeten ihre Investitionen in jene Technologien koordinieren, die die nächste Welle der wirtschaftlichen Entwicklung antreiben werden. Ich betrachte die Biopharmazie und andere fortschrittliche Fertigungstechniken als aufregende Bereiche, in denen die konkurrenzfähigsten Pionierunternehmen einen großen Vorsprung erzielen können. In gleicher Weise könnten KI-bedingte Durchbrüche bei der Fusionsenergie einen völlig neuen Weg hin zur Cleantech darstellen. Das wäre von enormer strategischer Tragweite.

Und schließlich müssen sich die Demokratien ihren Optimismus in Bezug auf die Fähigkeit neuer Technologien bewahren, uns unvorhergesehene Chancen und Vorteile zu eröffnen. Ich mache mir Sorgen, dass wir uns – wenn wir die Versprechen der KI, der Biotechnologie und anderer aufkommender Technologien aus den Augen verlieren oder zu sehr die mit diesen verbundenen Herausforderungen betonen und zu risikoscheu werden – durch übertriebene Regulierung selbst um eine führende Wettbewerbsposition bringen und in eine strategische Sackgasse manövrieren. Niemand bestreitet, dass leistungsstarke Technologie-Plattformen tiefgreifende ethische, wirtschaftliche und politische Herausforderungen aufwerfen und dass diese systemische – und nicht ad hoc formulierte – Antworten erfordern. Doch wir müssen in die Mittel der Demokratie vertrauen, in disruptiven Sektoren ein Gleichgewicht zwischen Innovation, Regulierung und anderen nationalen Interessen zu finden.

Die Zivilgesellschaft, Regierungen und Unternehmen der demokratischen Welt sind sehr wohl imstande, einen ausgewogenen Ansatz für den Umgang mit diesen Technologien zu finden. Autoritäre Staaten dagegen verfügen weder über gleichwertige Steuerungskapazitäten noch über Kontrollmechanismen, die verhindern, dass der Staat Technologie-Plattformen in einer Weise nutzt, die gegen die Menschenrechte verstößt – sei es, um seinen geopolitischen Einfluss auszuweiten oder seine Feinde zu untergraben. Den Plattformwettbewerb zu gewinnen wird die komplizierten Debatten innerhalb demokratischer Gesellschaften über den Umgang mit der Technologie nicht lösen, aber es ist eine Grundvoraussetzung, um eine solche Debatte überhaupt zu führen.

Hin zu einer Technologie-Agenda

Die Agenda, auf die hier angespielt wird, wird nationale Führungsstärke und systematische Organisation erfordern. Die USA und andere Demokratien haben sich schon früher derartigen Herausforderungen gestellt, etwa beim Wettlauf ins All Mitte des 20. Jahrhunderts, der sich bis heute fortsetzt.

Doch können wir für diese neue Ära nicht das Taktikhandbuch des Kalten Krieges nutzen. Wir müssen uns an das Aufkommen neuer Akteure im Bereich der technologischen Innovation und der Finanzierung anpassen – vom Crowdfunding bis hin zu Wagniskapital. Wir müssen uns an die neuen Realitäten des strategischen Wettbewerbs anpassen und dabei akzeptieren, dass die Technologie-Lieferketten kreuz und quer durch die ganze Welt verlaufen werden und dass Gleiches für die Netzwerke der Universitäten, Wissenschaftlern und Unternehmen gilt, die – wenn auch in sich wandelnden Mustern – die Zukunft aufbauen.

Diese Veränderungen lassen sich organisieren und nutzen, um sicherzustellen, dass die USA und andere Demokratien sich ihre technologische Vorreiterrolle bewahren. Doch müssen die Demokratien die Lehren des Jahres 2022 beachten, wenn die Welt eine Wahl haben soll darüber, welche Plattformen sie nutzen möchte, um die Zukunft zu errichten.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/sWwOF0Jde