freefall James Gourley/ZumaPress

Die große Misere geht weiter

NEW YORK – Das Jahr 2015 war alles in allem sehr schwierig. Brasilien fiel in eine Rezession. Die chinesische Wirtschaft geriet nach fast vier Jahrzehnten halsbrecherischen Wachstums erstmals ins Stocken. In der Eurozone konnte eine durch Griechenland ausgelöste Kernschmelze verhindert werden, aber die Beinahe-Stagnation geht weiter und trägt dazu bei, dass die letzten zehn Jahre wohl als verlorene Dekade betrachtet werden sollten. In den Vereinigten Staaten sollte 2015 eigentlich das Jahr werden, das die Große Rezession seit 2008 endlich vergessen lässt, aber statt erholt sich die Wirtschaft dort nur mäßig.

Tatsächlich hat Christine Lagarde, die Geschäftsführerin des Internationalen Währungsfonds, den momentanen Zustand der Weltwirtschaft als „neue Mittelmäßigkeit“ bezeichnet. Andere sorgen sich im Rückblick auf den schweren Pessimismus nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die Weltwirtschaft könne in eine Depression oder zumindest in eine längere Stagnation stürzen.

Anfang 2010 warnte ich in meinem Buch Freefall, das die Ereignisse im Vorfeld der Großen Rezession beschreibt, die Welt könnte sich hin zu einer so genannten „großen Misere“ entwickeln. Leider hatte ich recht: Wir haben nicht getan, was nötig gewesen wäre, und wir sind genau dort angekommen, wo ich befürchtet habe.

Die Ökonomie dieser Tatenlosigkeit ist leicht zu verstehen, und es gibt Mittel dagegen. Weltweit besteht ein Mangel an Gesamtnachfrage, der durch wachsende Ungleichheit und eine hirnlose Welle von Haushaltssparmaßnahmen hervorgerufen wurde. Diejenigen mit hohem Einkommen geben viel weniger aus als die Geringverdiener. Während also das Geld nach oben wandert, geht es mit der Nachfrage bergab. Und Länder wie Deutschland, deren externe Überschüsse dauerhaft hoch sind, tragen erheblich zum Hauptproblem der unzureichenden weltweiten Nachfrage bei.

Gleichzeitig leiden die USA auch unter der Sparwut, wenn auch in milderer Form als in Europa. In den Staaten sind im öffentlichen Sektor fast 500.000 weniger Menschen beschäftigt als vor der Krise. Hätten sich die öffentlichen Arbeitsplätze seit 2008 normal ausgeweitet, wären es statt dessen zwei Millionen mehr.

Darüber hinaus steht die Welt vor einem schwierigen, aber notwendigen strukturellen Wandel: in Europa und Amerika von der Produktion hin zu Dienstleistungen, und in China von einem exportorientierten Wachstumsmodell hin zu einer Wirtschaft, die von der Inlandsnachfrage angetrieben wird. Auch haben es die meisten rohstofforientierten Volkswirtschaften in Afrika und Lateinamerika versäumt, den Boom der Rohstoffpreise in der Folge des chinesischen Aufstiegs dazu zu nutzen, eine diversifizierte Wirtschaft aufzubauen. Jetzt leiden sie unter den Folgen der niedrigen Preise für ihre Hauptexportprodukte. Die Märkte selbst waren noch nie in der Lage, solche strukturellen Änderungen vorzunehmen.

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Es gibt weltweit enorme unerfüllte Bedürfnisse, die das Wachstum antreiben könnten. Allein die Infrastruktur könnte Investitionen in Höhe von Billionen von Dollar absorbieren, und dies nicht nur in den Entwicklungsländern, sondern auch in den USA, die seit Jahrzehnten zu wenig in ihre wichtigste Infrastruktur investieren. Darüber hinaus muss sich die ganze Welt an die Tatsache der globalen Erwärmung anpassen.

Unsere Banken sind zwar wieder halbwegs gesund, haben aber gezeigt, dass sie nicht in der Lage sind, ihren Zweck zu erfüllen. Bei Ausbeutung und Marktmanipulation verstehen sie ihr Handwerk, aber in ihrer grundlegenden Funktion als Vermittler sind sie gescheitert. Zwischen den Langfristsparern (wie Staats- oder Rentenfonds) und langfristigen Investitionen in Infrastruktur steht unser kurzsichtiger und dysfunktionaler Finanzsektor.

Der ehemalige Vorsitzende der US-Federal-Reserve, Ben Bernanke, sagte einmal, die Welt leide unter einem Überschuss an Ersparnissen. Dies wäre dann der Fall, wenn die bestmögliche Verwendung der weltweiten Ersparnisse darin bestünde, in schäbige Häuser in der Wüste von Nevada zu investieren. Aber in der realen Welt gibt es einen Mangel an Geld. Sogar Projekte mit hohem sozialen Nutzen bekommen oft keine Finanzierung.

Die einzige Heilung für die Misere der Welt besteht darin, die Gesamtnachfrage zu steigern. Dazu wäre eine weitreichende Umverteilung der Einkommen hilfreich, ebenso wie eine umfassende Reform unseres Finanzsystems – nicht nur, um es daran zu hindern, uns zu schaden, sondern auch, um Banken und andere Finanzinstitutionen dazu zu bringen, das zu tun, wozu sie da sind: langfristige Ersparnisse mit langfristigem Investitionsbedarf in Einklang zu bringen.

Aber einige der weltweit wichtigsten Probleme erfordern staatliche Investitionen. Benötigt werden diese Mittel in den Bereichen Infrastruktur, Ausbildung und Technologie sowie dazu, die strukturellen Veränderungen zu finanzieren, die überall auf der Welt erforderlich sind.

Die Hindernisse, vor denen die Weltwirtschaft steht, sind nicht ökonomischer, sondern politischer und ideologischer Natur. Die Ungleichheit und die ökologischen Schäden, mit denen wir es jetzt zu tun haben, wurden durch den privaten Sektor verursacht. Diese und andere schwere Probleme können nicht allein durch die Märkte gelöst werden, die letztlich daran schuld sind. Auch der Wohlstand kann so nicht wieder hergestellt werden. Was wir brauchen, ist eine aktive Regierungspolitik.

Dies bedeutet, den Defizitfetischismus zu überwinden. Für Länder wie die USA und Deutschland, deren langfristige Kreditkosten negativ sind, ist es sinnvoll, sich für die benötigten Investitionen Geld zu leihen. Auch in den meisten anderen Staaten liegen die Renditen öffentlicher Investitionen deutlich über den Kosten der Geldbeschaffung. Und für solche Länder, deren Kreditfähigkeit eingeschränkt ist, gibt es einen Ausweg, der auf dem alteingesessenen Prinzip des Mehrwerts beruht, den ein ausgeglichener Haushalt bietet: Höhere Staatsausgaben, die durch höhere Steuern finanziert werden, stimulieren die Wirtschaft. Leider setzen viele Länder wie Frankreich auf einen ausgeglichenen Haushalt durch Schrumpfung.

Optimisten meinen, 2016 werde besser als 2015. Dies könnte tatsächlich so sein, aber nur so geringfügig, dass es kaum bemerkt wird. Wenn wir das Problem der unzureichenden globalen Nachfrage nicht lösen, wird die große Misere weitergehen.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

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