UN Secretary-General Antonio Guterres addresses the assembly during a UN Security Council meeting Spencer Platt/Getty Images

Die Unterlassungsdelikte der UNO

KAIRO – Als die Vereinten Nationen gegründet wurden, bestanden ihre primären Ziele - wie in der Präambel zur UNO-Charta festgehalten – darin, zukünftige Generation vor der „Geißel des Krieges” zu bewahren und den „Glauben an die Grundrechte des Menschen” zu stärken. Mehr als 70 Jahre später gibt es auf der Welt mehr – und besser entwickelte – Waffen als jemals zuvor und weltweit wüten bewaffnete Konflikte, die großes Leid und hohe Opferzahlen unter Kämpfern und Zivilisten gleichermaßen zur Folge haben.

Zu den meistdiskutierten Konflikten zählt der Krieg in Syrien, der nach Angaben der Vereinten Nationen geschätzte 500.000 Tote und Verletzte forderte und aufgrund dessen Millionen Menschen vertrieben wurden. In Myanmar waren die Rohingya, eine muslimische Minderheit in einem überwiegend buddhistischen Land, Angriffen ausgesetzt, die von der UNO selbst als ethnische Säuberung bezeichnet wurden. Der Jemen wurde zum Schauplatz eines verheerenden Stellvertreterkrieges mit hohen Opferzahlen. Und auch in Burundi und der Demokratischen Republik Kongo toben Konflikte.

Trotz all ihres vermeintlichen Einflusses, erwies sich die UNO als ausgesprochen ineffektiv, wenn es darum geht, der Gewalt ein Ende zu bereiten. Hier muss der UNO-Generalsekretär beträchtliche Verantwortung auf sich nehmen. Schließlich ist der Generalsekretär das ultimative Symbol der UNO und in gewisser Weise der moralische Kompass der internationalen Gemeinschaft. Das Mandat wird dem Generalsekretär von der gesamten Welt übertragen, was vor allem für den aktuellen Amtsinhaber António Guterres gilt, der auf Grundlage eines überarbeiteten Auswahlverfahrens bestellt wurde, im Rahmen dessen der Generalversammlung – dem „Weltkongress“ -  eine prominentere Rolle zugewiesen wurde. Er ist daher verpflichtet, uns in eine weniger gewalttätige und menschlichere Zukunft zu führen.  

Zu Beginn des Jahres 2018 rief Guterres „Alarmstufe rot” für die Welt aus und erklärte, dass „wir Konflikte beilegen, den Hass überwinden und gemeinsame Werte verteidigen können. Aber wir können das nur gemeinsam tun.” Das war ein guter erster Schritt. Aber um der Verantwortung seines Amtes nachzukommen, muss er viel mehr tun.

Zunächst hat Guterres den Einfluss seines Amtes vollständig zu nutzen, um der moralischen Integrität und den Werten der Organisation zum Durchbruch zu verhelfen. Überdies sollte er persönlich und aktiv die Bemühungen der UNO-Gesandten sowohl öffentlich als auch privat unterstützen, indem er sich auf höchster Ebene einbringt, um Möglichkeiten zur Entschärfung bestehender Konflikte zu finden. Schließlich muss er gegenüber dem Sicherheitsrat klar und deutlich feststellen, dass dessen Untätigkeit und Selbstgefälligkeit nicht mit der UN-Charta vereinbar ist und ein Unterlassungsdelikt darstellt.

Der Sicherheitsrat trägt innerhalb der UNO die primäre Verantwortung für die Erhaltung von Frieden und Sicherheit. Er kann zur Lösung von Konflikten und der Beendigung von Feindseligkeiten auf Diplomatie setzen oder sich für Maßnahmen zur Durchsetzung von Zielen aussprechen.

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Der Sicherheitsrat hat in dieser Rolle jedoch in größtmöglichem Ausmaß versagt, vor allem, weil seine fünf ständigen Mitglieder (P5) – China, Frankreich, Russland, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten – so oft auf Grundlage ihrer eigenen Interessen agierten und mit ihrem Vetorecht drohten oder auch davon Gebrauch machten. Das Vetorecht sollte eigentlich die Zusammenarbeit erleichtern und es den P5 ermöglichen, ihrer Verantwortung zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der Sicherheit nachzukommen. 

Die einzige Einschränkung des Vetorechts der P5 – wonach sich Streitparteien der Stimme enthalten müssen – unterstreicht, wie wichtig es ist, bei der Entscheidungsfindung im Sicherheitsrat, einen gewissen Anschein an Neutralität zu bewahren. Doch die ständigen Mitglieder nehmen weder Verletzungen des Völkerrechts noch umfassendes menschliches Leid wichtiger als Realpolitik oder „geopolitische Erwägungen“. Sie verfolgen sogar Strategien, die die Vereinten Nationen, ihre Charta sowie die regelbasierte Weltordnung im weiteren Sinne untergraben.

Das Versagen der P5, Konflikte zu beenden - und in einigen Fällen ihr Beitrag zur Verschärfung oder Verlängerung der Feindseligkeiten – kommt zumindest einer Duldung der Gewalt und des Leidens gleich, von denen kleine und mittelgroße Länder unverhältnismäßig betroffen sind. Auf grundsätzlicherer Ebene hat der Sicherheitsrat das Vertrauen in die UNO und in das Völkerrecht untergraben und die Toleranz gegenüber Unmenschlichkeit erhöht. Damit wird dem Tod, der Zerstörung und dem Leiden Tür und Tor geöffnet, während gleichzeitig die Weltordnung in Misskredit gebracht wird, der wir uns anlässlich der Gründung der UNO feierlich verpflichtet haben.

Insbesondere die USA und Russland tragen Verantwortung für das Versagen der P5. Statt ihren politischen Einfluss und ihre militärischen Kapazitäten zur Kontrolle und Entschärfung von Konflikten einzusetzen – natürlich in Zusammenarbeit mit regionalen Akteuren – sind sie erneut in einen strategischen Wettbewerb getreten, der, wie die Geschichte zeigt, wahrscheinlich nur zu noch mehr Instabilität und Elend führen wird.

Nichts davon entbindet jedoch die anderen drei Mitglieder der P5 von ihrer Verantwortung, im Sicherheitsrat dafür zu kämpfen, dass dieser seiner Rolle bei der Unterstützung von Frieden und Sicherheit auf der Welt gerecht wird. Zumindest müssen sie entschlossen auftreten und sich für gemeinsame Maßnahmen des Sicherheitsrates aussprechen.

Sämtliche P5-Mitglieder haben ihre Verantwortung wahrzunehmen und zwar nicht nur, wenn es um die Aufrechterhaltung der Weltordnung geht, bei deren Entwicklung sie eine zentrale Rolle spielten, sondern auch bei der Erneuerung des Glaubens in diese Ordnung, wozu auch die Umsetzung notwendiger Reformen zählt. Das heißt, dem Rest der Welt zu zeigen, dass sie ihr Vetorecht verantwortungsvoll ausüben, indem sie gemeinsamen Interessen und Werten eine höhere Priorität einräumen.

Eine einfach zu befolgende Regel wäre, auf das Veto gegen eine Resolution zu verzichten, die von einer Mehrheit der Mitglieder des Sicherheitsrates unterstützt wird, es sei denn mindestens zwei P5-Mitglieder sind dagegen. Obwohl das Problem damit nicht vollständig gelöst ist, sollte der Sicherheitsrat damit effektiver werden, weil man wirkungsvollere Diskussionen aller Sicherheitsratsmitglieder anstößt, im Rahmen derer nicht nur die mächtigen P5 gehört werden.  

Internationale Akteure haben die Souveränität der einzelnen Länder zu respektieren. Aber im Falle von Konflikten, die großflächig Tod und Zerstörung bringen, haben die UNO und ihre mächtigsten Akteure eine – wie in der UNO-Charta festgelegte – Verantwortung, alles zu tun, um den Frieden wiederherzustellen. Sie üben ihre Macht schon zu lange ohne Verantwortung aus. 

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/sAbW3Gcde