vaheesan2_Michael M. SantiagoGetty Images_gigworkersprotest Michael M. Santiago/Getty Images

Gig-Economy gegen Amerikas Arbeitnehmer

WASHINGTON, D.C.: In den USA versuchen Uber, Lyft, DoorDash, Instacart und andere „Gig“-Unternehmen gerade wieder einmal, den Segen des Gesetzgebers für ihre skrupellosen Beschäftigungspraktiken zu erhalten. Im Vorfeld der Wahl im November haben diese Unternehmen in Massachusetts mehrere Abstimmungsanträge eingebracht, die sie in die Lage versetzen würden, Kraftfahrer und Zusteller als unabhängige Auftragnehmer statt als angestellte Arbeitnehmer zu behandeln. (Das Open Markets Institute, wo ich arbeite, hat einen Amicus-Curiae-Schriftsatz zur Unterstützung einer Anfechtungsklage gegen die Verfassungsmäßigkeit der zur Abstimmung gestellten Fragen eingereicht.) Wie im Falle der Proposition 22 in Kalifornien im Jahr 2020 werden Uber und weitere Unternehmen vermutlich viel Geld ausgeben, um die Wähler zu überzeugen, dass die betroffenen Arbeitnehmer und die Öffentlichkeit gleichermaßen von diesen Maßnahmen profitieren würden.

Falls die Wähler in Massachusetts diese Wahlanträge im November gutheißen, wäre es diesen Unternehmen gestattet, ihre Beschäftigten grundlegender Arbeitnehmerrechte und Arbeitgeberleistungen zu berauben, darunter Mindestlohn, Überstundengeld und Arbeitsunfall- und Arbeitslosenversicherung. Es würde den Gig-Unternehmen zudem einen großen – und offenkundig unfairen – Wettbewerbsvorteil gegenüber Wettbewerbern verschaffen und die Arbeitsmarktstandards senken. Statt dieses ausbeuterische Geschäftsmodell zu ermutigen, sollten die Politiker der US-Einzelstaaten und des Bundes diese Unternehmen zwingen, die für alle Arbeitgeber geltenden Gesetze einzuhalten.

Die Gig-Unternehmen haben den größten Teil ihrer Belegschaften von Anfang an falsch eingestuft und dabei entweder offen gegen die Gesetze verstoßen oder deren Unklarheiten ausgenutzt. Uber und Lyft beispielsweise haben gegenüber Regulierungsbehörden und der Öffentlichkeit darauf beharrt, dass ihre Fahrer unabhängige Auftragnehmer seien und daher keinen Anspruch auf die für Arbeitnehmer geltenden Rechte und Schutzregelungen einschließlich der Koalitionsfreiheit hätten. Diese Unternehmen bewahren sich die Kontrollbefugnisse eines Arbeitgebers – Uber schreibt seinen Fahrern vor, wen sie abholen müssen und welche Strecken sie fahren müssen, und legt zudem ihre Preise fest – und weigern sich zugleich, die mit der Stellung eines Arbeitgebers einhergehenden Verantwortlichkeiten und Kosten zu übernehmen.

Die Wahlanträge könnten die drohenden rechtlichen Wolken vertreiben, die über den Gig-Unternehmen hängen – zumindest in Massachusetts, wo sie gegen arbeitnehmerfreundliche arbeitsrechtliche Bestimmungen zu verstoßen scheinen. Im Jahr 2020 erhob die damalige Justizministerin von Massachusetts, Maura Healey (die inzwischen Gouverneurin des Staates ist) Klage gegen Uber und Lyft und warf ihnen vor, Fahrer fälschlich als unabhängige Auftragnehmer eingestuft und ihnen unberechtigterweise den Mindestlohn und Überstundengeld vorenthalten zu haben. Das betreffende Gerichtsverfahren hat gerade begonnen.

Die Einstufung der Fahrer, Einkäufer und des Lieferpersonals der Gig-Unternehmen würde beträchtlichen Schaden verursachen. Zunächst einmal würden die Gig-Arbeiter damit offiziell ihre Arbeitnehmerrechte verlieren. Trotz ihrer Fehleinstufung können sie derzeit nach dem Recht von Massachusetts wegen Nichtzahlung des Mindestlohns von 15 Dollar pro Stunde Klage einreichen. Zudem hätten die Gig-Arbeiter für den Fall eines Arbeitsplatzverlustes keinen Anspruch auf Arbeitslosenversicherung mehr oder auf Leistungen aus der Arbeitsunfallversicherung, wenn sie bei der Arbeit verletzt oder angegriffen werden.

Das sind nicht bloße theoretische Nachteile. Viele wenn nicht die meisten Uber- und Lyft-Fahrer verdienen nach Abzug der Kosten für ihr Fahrzeug, Benzin und Versicherung weniger als den geltenden gesetzlichen Mindestlohn. Viele Gig-Arbeiter haben während der COVID-19-Pandemie ihre Existenzgrundlage verloren. Taxi- und Lieferfahrer werden bei der Arbeit häufig angegriffen oder verletzt. Laut US Bureau of Labor Statistics ist die Transport- und Lieferbranche mit 1620 Toten im Jahr 2022 die gefährlichste Branche in den USA. Gig-Arbeitern grundlegende Schutzmechanismen zu verweigern hätte schwerwiegende Folgen für eine überproportional stark aus Einwanderern und Farbigen bestehende Bevölkerungsgruppe.

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Was die Gig-Unternehmen in Massachusetts und anderswo anstreben ist ein dauerhafter Wettbewerbsvorteil gegenüber Wettbewerbern, die sich an die arbeitsrechtlichen Bestimmungen des Staates halten müssen. Unternehmen, die Arbeitnehmer fälschlich als unabhängige Auftragnehmer einstufen, sparen schätzungsweise 20–40 % der Arbeitskosten. Uber, Lyft und DoorDash haben diesen Vorteil bereits. Wettbewerber, die verpflichtet sind, ihre Arbeiter als Arbeitnehmer einzustufen, müssten ihnen weiterhin einen existenzsichernden Lohn sowie Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Taxiunternehmen, die Fahrer beschäftigen, und Restaurants und Supermärkte, die Lebensmittel ausliefern, haben bereits beträchtliche Marktanteile an Gig-Unternehmen verloren, die lange Zeit gegen arbeitsrechtliche Bestimmungen verstoßen haben und in der Lage waren, jahrelang Verluste zu machen. Die Wahlanträge würden diesen unfairen Wettbewerb legalisieren.

Die Ungerechtigkeit ist eindeutig: Ein Restaurant, das einen Fahrer beschäftigt, um Mahlzeiten auszuliefern, wäre verpflichtet, diesem mindestens 15 Dollar Stundenlohn zu zahlen, während DoorDash, wenn es dasselbe Essen vom selben Restaurant ausliefert, seinem Fahrer legal weniger zahlen könnte. Als der Kongress 1938 das Gesetz über den nationalen Mindestlohn und über Überstunden verabschiedete, bezeichnete er die Zahlung nicht existenzsichernder Löhne an die Arbeiter als „unfaire Wettbewerbsmethode“.

Und schließlich würden die Wahlanträge, falls sie Erfolg haben, eine Abwärtsspirale in Gang setzen. Die Gig-Unternehmen würden im Laufe der Zeit durch ihre schädlichen Beschäftigungspraktiken noch mehr Marktanteile hinzugewinnen und noch mehr Arbeitskräfte beschäftigen, denen es an einer grundlegenden Absicherung fehlt. Ihre Wettbewerber stünden dann vor der Entscheidung, entweder die gesetzlichen Bestimmungen einzuhalten und potenziell pleitezugehen oder auf Praktiken wie Lohndiebstahl zu verfallen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Obwohl von ihrem Umfang her scheinbar eng begrenzt, könnten diese Maßnahmen letztlich Massachusetts’ starke Arbeitsmarktstandards untergraben.

Die Wahlanträge stellen einen heimtückischen Versuch der Gig-Konzerne dar, ihre ungesetzlichen Geschäftsmodelle zu legalisieren. Während eine Niederlage an der Wahlurne oder vor Gericht diese Unternehmen zwingen könnten, in Massachusetts Kurs zu ändern, wird das allein nicht ausreichen. Die Politiker der US-Einzelstaaten und des Bundes müssen stärkere Maßnahmen gegen diese Unternehmen ergreifen, die mit ihren Verstößen gegen die von gewählten Amtsträgern verabschiedeten Regeln bisher weitgehend durchgekommen sind. Sie haben mit hohem Tempo Regeln gebrochen und sind nun bestrebt, sich den verursachten Schaden nachträglich für rechtsgültig erklären zu lassen. Die Regierung sollte dem Einhalt gebieten: Niemand steht über dem Gesetz, auch nicht Uber.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/XgZOmzvde