Bundeskanzler Gerhard Schröders Rücktritt als Parteivorsitzender der SPD wird tief greifende Auswirkungen auf die Kräfteverteilung innerhalb der Bundesregierung und ihrer knappen rotgrünen Bundestagsmehrheit haben. Zwar scheint es verfrüht, von einer Kanzlerdämmerung zu sprechen, wie dies auf einigen Seiten derzeit der Fall ist, oder Schröders überraschenden Schritt als âAnfang vom Ende" seiner Amtszeit zu bezeichnen, doch ist es vollkommen richtig, hierin einen dramatischen Machtverlust zu sehen.
Der unmittelbare Gewinner ist der SPD-Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering (64), der Schröder als Parteivorsitzenden beerben wird. Beide Politiker werden ein Zweigespann bilden, aber Schröder wird stärker auf Münteferings Loyalität angewiesen sein als Müntefering auf Schröders Erfolg.
Schröder vertritt innerhalb der politischen Linken eine moderate Linie, die sich mit der âNew Labour"-Philosophie des britischen Premierministers Tony Blair oder dem Zentrismus des früheren US-Präsidenten Bill Clinton vergleichen lässt. Müntefering andererseits ist stärker traditionellen sozialdemokratischen Werten verbunden. Was den Führungsstil angeht, so ist Schröder ein Solist, Müntefering dagegen ein Mannschaftsspieler.
Der Bundeskanzler hat in Deutschland unter den wichtigen politischen Akteuren die stärkste Stellung inne. Die Stärke eines Kanzlers beruht jedoch nicht primär auf den ihm übertragenen verfassungsmäÃigen Befugnissen, sondern auf dem Rückhalt, den er innerhalb der eigenen Partei genieÃt.
Von einer bemerkenswerten Ausnahme in den 1950er Jahren abgesehen, ist es weder der Sozialdemokraten noch den gemäÃigt konservativen Christdemokraten - den beiden groÃen politischen Parteien Deutschlands - bisher gelungen, eine absolute Mehrheit im Bundestag zu erreichen. Entsprechend steht der Bundeskanzler in der Regel einer Koalitionsregierung vor, und seine tatsächliche Autorität innerhalb einer solchen politischen Allianz basiert auf der Loyalität der von ihm geführten Kräfte aus der eigenen Partei.
Obwohl die Sozialdemokraten Schröder nie wirklich gemocht haben (und ihn sicherlich nicht lieben wie den unvergessenen Willy Brandt), so sind sie ihm doch wohl oder übel gefolgt, solange sie ihn nach 16 frustrierenden Jahren in der Opposition während der Kanzlerschaft Helmut Kohls (1982-1998) als einzigen Garanten für den Erfolg an der Wahlurne betrachteten. Dies jedoch ist nicht länger der Fall. Seit Ende 2002 sehen sich Schröder und die SPD in der öffentlichen Meinung ungewöhnlich niedrigen Zustimmungsraten ausgesetzt - und das dürfte sich so schnell nicht ändern.
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In 2003 allein kehrten 40.000 Sozialdemokraten ihrer Partei den Rücken, ein Aderlass von nie gekannten AusmaÃen. Hätten am vergangenen Sonntag, also am 8. Februar, Wahlen stattgefunden, dann hätte nach Aussagen von Infratest dimap - einem der groÃen deutschen Wahlforschungsinstitute - eine Mitte-rechts-Koalition bestehend aus Christdemokraten und Liberalen 57 % der Stimmen auf sich vereint. Schröders rotgrüne Koalition hätte mit lediglich 35 % der Stimmen ein katastrophales Wahlergebnis eingefahren.
Zu Beginn des deutschen âSuperwahljahres" - mit 14 Wahlen, nämlich der Europawahl sowie fünf Landtags- und acht Kommunalwahlen - sind dies für die SPD denkbar schlechte Aussichten.
Schröder hat es bereits mehrmals geschafft, in verzweifelter Situation mit dem Rücken zur Wand stehend durch eine Energieleistung das Blatt noch zu wenden. Diese Fähigkeit ist seine gröÃte Stärke, und es scheint, als hätte er nun seine bisher riskanteste Gegenoffensive eingeleitet. Sie basiert auf der Einschätzung, dass ab Mitte 2004 ein bis zu den Bundestagswahlen im Herbst 2006 anhaltender deutlicher Wirtschaftsaufschwung einsetzen wird - und dass die Wähler die erwartete Erholung auf die als âAgenda 2010" bezeichneten Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialreformen zurückführen werden, die Schröder zum Markenzeichen seiner Kanzlerschaft erklärt hat.
Lange Zeit war die Schröders Reformpolitik hinter seiner Rhetorik zurückgeblieben. Erst nach seiner Wiederwahl im Herbst 2002 gab er seine vorherige populistische Haltung auf, die durch kurzfristige Korrekturen und das neokorporatistische Bestreben, zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zu vermitteln, gekennzeichnet war.
Mag Schröders Reformagenda angesichts der gravierenden Probleme Deutschlands - einer sich beschleunigenden Abnahme der Bevölkerungszahl, einem überregulierten Arbeitsmarkt sowie einem verschwommenen und verwirrenden Steuersystem - auch als bei weitem zu zaghaft erscheinen, so werden viele der vorgenommenen Einschnitte von den Stammwählern der SPD, insbesondere den mächtigen Gewerkschaften, als äuÃerst grausam wahrgenommen.
Angesichts der wirtschaftlichen Notlage Deutschlands, die sich aufgrund der demografischen Probleme des Landes weiter verschärfen dürfte, sind die Sozialdemokraten jedoch dazu verdammt, der Schaffung von Wohlstand Vorrang vor der Umverteilung einzuräumen. Deutschland kann sich eine Verlangsamung oder - schlimmer noch - ein Ende des Reformprozesses nicht leisten.
Bestenfalls wird Schröder deshalb an seiner Philosophie der âAgenda 2010" festhalten, und Müntefering wird einer widerstrebenden SPD geduldig erklären, dass vor dem Erreichen des gelobten Landes die Wüste durchquert werden muss. Schlimmstenfalls wird Schröder zugunsten kurzfristiger Wahlerfolge erneut auf eine populistische Politik verfallen, und Müntefering könnte ihn in dieser Methode bestärken, um die verwundete sozialdemokratische Seele vor völliger Verzweiflung zu bewahren.
Schröders Tragik liegt darin, dass sein Machtverfall sich fortsetzen könnte, egal, für welchen Weg er sich entscheidet. Mit Ende des diesjährigen âSuperwahljahres" werden wir die Antwort kennen.
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By choosing to side with the aggressor in the Ukraine war, President Donald Trump’s administration has effectively driven the final nail into the coffin of US global leadership. Unless Europe fills the void – first and foremost by supporting Ukraine – it faces the prospect of more chaos and conflict in the years to come.
For most of human history, economic scarcity was a constant – the condition that had to be escaped, mitigated, or rationalized. Why, then, is scarcity's opposite regarded as a problem?
asks why the absence of economic scarcity is viewed as a problem rather than a cause for celebration.
Bundeskanzler Gerhard Schröders Rücktritt als Parteivorsitzender der SPD wird tief greifende Auswirkungen auf die Kräfteverteilung innerhalb der Bundesregierung und ihrer knappen rotgrünen Bundestagsmehrheit haben. Zwar scheint es verfrüht, von einer Kanzlerdämmerung zu sprechen, wie dies auf einigen Seiten derzeit der Fall ist, oder Schröders überraschenden Schritt als âAnfang vom Ende" seiner Amtszeit zu bezeichnen, doch ist es vollkommen richtig, hierin einen dramatischen Machtverlust zu sehen.
Der unmittelbare Gewinner ist der SPD-Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering (64), der Schröder als Parteivorsitzenden beerben wird. Beide Politiker werden ein Zweigespann bilden, aber Schröder wird stärker auf Münteferings Loyalität angewiesen sein als Müntefering auf Schröders Erfolg.
Schröder vertritt innerhalb der politischen Linken eine moderate Linie, die sich mit der âNew Labour"-Philosophie des britischen Premierministers Tony Blair oder dem Zentrismus des früheren US-Präsidenten Bill Clinton vergleichen lässt. Müntefering andererseits ist stärker traditionellen sozialdemokratischen Werten verbunden. Was den Führungsstil angeht, so ist Schröder ein Solist, Müntefering dagegen ein Mannschaftsspieler.
Der Bundeskanzler hat in Deutschland unter den wichtigen politischen Akteuren die stärkste Stellung inne. Die Stärke eines Kanzlers beruht jedoch nicht primär auf den ihm übertragenen verfassungsmäÃigen Befugnissen, sondern auf dem Rückhalt, den er innerhalb der eigenen Partei genieÃt.
Von einer bemerkenswerten Ausnahme in den 1950er Jahren abgesehen, ist es weder der Sozialdemokraten noch den gemäÃigt konservativen Christdemokraten - den beiden groÃen politischen Parteien Deutschlands - bisher gelungen, eine absolute Mehrheit im Bundestag zu erreichen. Entsprechend steht der Bundeskanzler in der Regel einer Koalitionsregierung vor, und seine tatsächliche Autorität innerhalb einer solchen politischen Allianz basiert auf der Loyalität der von ihm geführten Kräfte aus der eigenen Partei.
Obwohl die Sozialdemokraten Schröder nie wirklich gemocht haben (und ihn sicherlich nicht lieben wie den unvergessenen Willy Brandt), so sind sie ihm doch wohl oder übel gefolgt, solange sie ihn nach 16 frustrierenden Jahren in der Opposition während der Kanzlerschaft Helmut Kohls (1982-1998) als einzigen Garanten für den Erfolg an der Wahlurne betrachteten. Dies jedoch ist nicht länger der Fall. Seit Ende 2002 sehen sich Schröder und die SPD in der öffentlichen Meinung ungewöhnlich niedrigen Zustimmungsraten ausgesetzt - und das dürfte sich so schnell nicht ändern.
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In 2003 allein kehrten 40.000 Sozialdemokraten ihrer Partei den Rücken, ein Aderlass von nie gekannten AusmaÃen. Hätten am vergangenen Sonntag, also am 8. Februar, Wahlen stattgefunden, dann hätte nach Aussagen von Infratest dimap - einem der groÃen deutschen Wahlforschungsinstitute - eine Mitte-rechts-Koalition bestehend aus Christdemokraten und Liberalen 57 % der Stimmen auf sich vereint. Schröders rotgrüne Koalition hätte mit lediglich 35 % der Stimmen ein katastrophales Wahlergebnis eingefahren.
Zu Beginn des deutschen âSuperwahljahres" - mit 14 Wahlen, nämlich der Europawahl sowie fünf Landtags- und acht Kommunalwahlen - sind dies für die SPD denkbar schlechte Aussichten.
Schröder hat es bereits mehrmals geschafft, in verzweifelter Situation mit dem Rücken zur Wand stehend durch eine Energieleistung das Blatt noch zu wenden. Diese Fähigkeit ist seine gröÃte Stärke, und es scheint, als hätte er nun seine bisher riskanteste Gegenoffensive eingeleitet. Sie basiert auf der Einschätzung, dass ab Mitte 2004 ein bis zu den Bundestagswahlen im Herbst 2006 anhaltender deutlicher Wirtschaftsaufschwung einsetzen wird - und dass die Wähler die erwartete Erholung auf die als âAgenda 2010" bezeichneten Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialreformen zurückführen werden, die Schröder zum Markenzeichen seiner Kanzlerschaft erklärt hat.
Lange Zeit war die Schröders Reformpolitik hinter seiner Rhetorik zurückgeblieben. Erst nach seiner Wiederwahl im Herbst 2002 gab er seine vorherige populistische Haltung auf, die durch kurzfristige Korrekturen und das neokorporatistische Bestreben, zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zu vermitteln, gekennzeichnet war.
Mag Schröders Reformagenda angesichts der gravierenden Probleme Deutschlands - einer sich beschleunigenden Abnahme der Bevölkerungszahl, einem überregulierten Arbeitsmarkt sowie einem verschwommenen und verwirrenden Steuersystem - auch als bei weitem zu zaghaft erscheinen, so werden viele der vorgenommenen Einschnitte von den Stammwählern der SPD, insbesondere den mächtigen Gewerkschaften, als äuÃerst grausam wahrgenommen.
Angesichts der wirtschaftlichen Notlage Deutschlands, die sich aufgrund der demografischen Probleme des Landes weiter verschärfen dürfte, sind die Sozialdemokraten jedoch dazu verdammt, der Schaffung von Wohlstand Vorrang vor der Umverteilung einzuräumen. Deutschland kann sich eine Verlangsamung oder - schlimmer noch - ein Ende des Reformprozesses nicht leisten.
Bestenfalls wird Schröder deshalb an seiner Philosophie der âAgenda 2010" festhalten, und Müntefering wird einer widerstrebenden SPD geduldig erklären, dass vor dem Erreichen des gelobten Landes die Wüste durchquert werden muss. Schlimmstenfalls wird Schröder zugunsten kurzfristiger Wahlerfolge erneut auf eine populistische Politik verfallen, und Müntefering könnte ihn in dieser Methode bestärken, um die verwundete sozialdemokratische Seele vor völliger Verzweiflung zu bewahren.
Schröders Tragik liegt darin, dass sein Machtverfall sich fortsetzen könnte, egal, für welchen Weg er sich entscheidet. Mit Ende des diesjährigen âSuperwahljahres" werden wir die Antwort kennen.