Das moderne muslimische Antlitz der Türkei

Vor kurzem übernahm die Türkei von Großbritannien das Kommando über die Internationale Sicherheitstruppe in Afghanistan. Wie üblich hat kaum jemand davon Notiz genommen. Die Probleme der Türkei - von Finanzkrisen bis zur Krankheit des Premierministers Bulent Ecevit - erobern die Schlagzeilen. Ihre Erfolge und die Mitwirkung an internationalen Aktionen aber werden, wenn überhaupt, irgendwo auf den letzten Seiten der großen Zeitungen erwähnt.

In der Welt nach den Terroranschlägen vom letzten September in Amerika haben die türkische Identität, sowie die von der Türkei in ihrem historischen Streben nach Modernität getroffen Entscheidungen und Allianzen jedoch größere Bedeutung als jemals zuvor. Die von der türkischen Öffentlichkeit mit großer Zustimmung aufgenommene Übernahme des Kommandos über die friedenserhaltenden Truppen in Afghanistan unterstreicht einmal mehr die Tatsache, dass die Türkei die einzige muslimische Nation unter den NATO-Mitgliedsstaaten ist.

Der türkische Spagat zwischen Islam und dem Westen macht die Innen- und Außenpolitik dieses Landes so faszinierend. So betrachten viele Türken die Entwicklung ihres Landes als einen überzeugenden Gegenbeweis für die Theorie vom unvermeidlichen ,,Kampf der Kulturen" zwischen dem Islam und dem Westen.

Man schritt auch rasch zur Tat, um die Amerikaner in ihrem Krieg den Terrorismus zu unterstützen. Viele Türken sahen sich durch die Terroranschläge gegen die Vereinigten Staaten in ihren jahrzehntelangen Bemühungen bestätigt, die Aufmerksamkeit der Welt - und vor allem Europas - auf die Geißel des Terrorismus zu lenken. Indem man einerseits die amerikanischen Operationen in Afghanistan unterstützte, sich aber zugleich auch gegen die Verteufelung des Islam aussprach, gelang es der Regierung die strategischen Interessen der Türkei bei gleichzeitiger Rücksichtnahme auf sensible religiöse Bereiche zu wahren.

Endlose Diskussionen in Talkshows des türkischen Fernsehens zeigten, dass man sich umfassend mit der Situation auseinander setzte. Einige Islamisten, die sich nicht hundertprozentig gegen Gewalt an Zivilisten aussprachen, schienen die Zustimmung der Öffentlichkeit verloren zu haben. Durch den Widerstand der säkular orientierten Linken gegen die Politik der Amerikaner wurde auch verhindert, dass sich die Debatte ausschließlich um den Islam drehte. Gleichzeitig fand im letzten Februar in der Türkei ein zweitägiger ,,Dialog der Kulturen" zwischen der Organisation der Islamischen Konferenz und der EU statt. Teilnehmer auf beiden Seiten äußerten dabei ihre Zweifel an der amerikanischen Politik.

In der Türkei ist man besorgt, dass der Irak das nächste Angriffsziel der Amerikaner sein könnte. Der Irak ist das einzige Thema bei dem amerikanische und türkische Interessen weit auseinander liegen. Weder das türkische Militär, noch die Regierung oder die Öffentlichkeit haben für eine amerikanische Aktion gegen den Irak etwas übrig. Alles was die Türken allerdings vom amerikanischen Vizepräsidenten Dick Cheney während seines Besuches letzten März zu hören bekamen, war eine halbherzige Versicherung, dass eine Militäraktion der Amerikaner ohnehin nicht unmittelbar bevorstehe.

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Offiziell gibt sich die Türkei darüber besorgt, dass ein Sturz Saddam Husseins zu einem irreparablen Zerfall des irakischen Staates führen könnte. Unter der Oberfläche allerdings verbergen sich türkische Urängste vor dem kurdischen Nationalismus und seinen bedrohlichen Auswirkungen auf die türkische Einheit im Falle eines Zerfalls des Iraks. Letzten Endes bestehen in der Türkei aber kaum Zweifel daran, dass die Türkei im Falle des Eingreifens amerikanischer Bodentruppen im Irak als Militärbasis dienen und womöglich selbst an einem Feldzug teilnehmen könnte.

Auch die prinzipiell guten Beziehungen der Türkei zu Israel wurden durch die israelische Operation ,,Verteidigungsschild" schweren Belastungen ausgesetzt. Trotz des Zorns der türkischen Öffentlichkeit über die Vorgangsweise Israels, hielt das türkische Militär am weiteren Ausbau der Sicherheitsbeziehungen zum jüdischen Staat fest und schloss kürzlich mit Israel sogar einen lukrativen Beschaffungsvertrag zur Modernisierung der türkischen Panzerflotte.

Eine im Mai durchgeführte Meinungsumfrage zeigte, dass beinahe zwei Drittel der Türken die offizielle Haltung ihres Landes gegenüber den Kämpfen zwischen Israelis und Palästinensern ablehnen. Zeitweise ändert sich dies allerdings durch die allgemeine Abscheu vor den Selbstmordanschlägen in Israel. Auch der tödliche Angriff auf ein internationales Beobachterteam in Hebron, dem zwei türkische Offiziere angehörten, wurde mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Das türkische Militär ist der Ansicht, dass dieser Angriff, bei dem Major Cengiz Toytunc getötet wurde, auf das Konto der Palästinenser geht.

Die meisten Türken weigern sich eine Verbindung zwischen dem Islam und der sinnlosen Gewalt der Terroristen herzustellen. Die Bemühungen der Regierung, in der Türkei ein säkulares Staatswesen zu erhalten und dabei islamische Traditionen zu berücksichtigen, tragen Früchte. Es herrscht eine tiefe Überzeugung, dass die Türkei zwischen dem Westen und der islamischen Welt vermitteln könnte.

Die islamistischen Parteien, deren politischer Einfluss durch die Vertrauenskrise der säkularen Parteien wieder auflebt, haben sich davor gehütet, Ressentiments auszunutzen, die sich im Gefolge des 11. September möglicherweise entwickelt haben. Tayip Erdogan, der Vorsitzende einer islamistischen Partei sprach davon, dass Angriffe auf unschuldige Zivilisten niemals mit religiösen Motiven zu rechtfertigen sind.

Selbstverständlich stehen die Islamisten unter strenger Beobachtung des Militärs, das auch schon wiederholt zur Verteidigung der säkularen Identität des türkischen Staates in die offizielle Politik eingegriffen hat. Die islamistischen Parteien erkennen aber auch die breite Zustimmung der Bevölkerung zur Türkei als ein modernes Land, das die zeitgemäße Seite des Islam in der Welt von heute vertritt.

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