Die Schwachstelle in Europas ,,hartem Kern"

Frankreich und Deutschland sahen sich immer als den ,,harten Kern" der Europäischen Union, der von weniger stark eingebundenen Mitgliedern in konzentrischen Kreisen umgeben wird. Nur die anderen vier Gründungsmitglieder der damaligen Europäischen Gemeinschaft - Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg - wurden in den innersten Zirkel der wahren Verfechter der europäischen Idee aufgenommen.

Zweifellos war die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg - jener beiden Länder, die sich einst als ,,Erzfeinde" betrachteten und bekämpften - über fünfzig Jahre hinweg der Motor der europäischen Integration. Heute aber erscheint die französisch-deutsche Achse eher als die Schwachstelle Europas. Der Motor ist ins Stottern geraten.

Die traumatische Erfahrung der Uneinigkeit des Westens in der Irakfrage im UNO-Sicherheitsrat - bei der die Regierungen Jacques Chirac und Gerhard Schröder den Widerstand gegen die von den USA und Großbritannien geleitete Invasion im Irak anführten - zeigte, dass der französisch-deutsche Bilateralismus destruktive Nebenwirkungen hatte. Der Anspruch der beiden Länder für ganz Europa zu sprechen, verärgerte viele in der EU.

Ein ,,harter Kern" in Europa ist aber kein Selbstzweck. Vielmehr ist er dazu da, nationale Selbstsucht zu überwinden und als gutes Beispiel voranzugehen. Eine von Multilateralismus geprägte französisch-deutsche Partnerschaft hält Europa zusammen. Aber genau davon ist momentan in vielen Bereichen der Integration nichts zu spüren.

Im Oktober des vorigen Jahres trafen Chirac und Schröder eine Vereinbarung zur Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU, wonach sichergestellt wird, dass Frankreich der größte Nutznießer des EU-Agrarbudgets auch nach Aufnahme der 10 neuen EU-Mitglieder im Jahr 2004 bleiben wird. Die GAP macht etwa die Hälfte des EU-Budgets aus - ein wenig beeindruckendes Zeichen für eine Gemeinschaft, die ein Schwergewicht in der internationalen Politik werden möchte.

Nun geriet jenes Abkommen unter französisch-deutschen Beschuss, das die Grundlage der europäischen Einheitswährung, des Euro, bildet. Wieder einmal formen die beiden Länder eine ,,Koalition der Unwilligen" - diesmal gegen den Sanktionsmechanismus des Europäischen Wachstums- und Stabilitätspaktes, der die Obergrenze der Haushaltsdefizite in den Euroländern mit 3 % des BIP festlegt.

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Die Europäische Zentralbank hat darauf hingewiesen, dass die Zinsen in der Eurozone nach einem Zusammenbruch des Paktes steigen könnten. Das heißt mit anderen Worten: Länder, die sich an die im Pakt festgesetzten Grenzen halten, würden nun die Rechnung für die mangelnde Disziplin Frankreichs und Deutschlands zu bezahlen haben.

Das Verhalten Deutschlands ist vor allem deshalb besonders ärgerlich, da man einst als der stärkste Befürworter des Stabilitätspaktes aufgetreten war. Unter Kanzler Helmut Kohl gab man die geliebte Deutsche Mark auf, um damit die Europäische Integration zu vertiefen, aber auch um französische Ängste vor einer monetären Hegemonie der Deutschen am Kontinent zu beschwichtigen. Frankreich wiederum musste den Wachstums- und Stabilitätspakt schlucken, um eine zögerliche deutsche Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass der Euro genauso stabil sein würde wie die Deutsche Mark.

Sich an die europäischen Spielregeln zu halten sollte eine Selbstverständlichkeit sein, auch wenn es bedeutet, daheim unpopuläre Sparmaßnahmen durchzusetzen. Es ist verständlich, dass gute Europäer wie die Holländer oder die Finnen es für inakzeptabel halten, dass große Länder wie Frankreich und Deutschland nun den Anspruch erheben, gleicher zu sein, als kleinere Länder. Wenn sich diese Vorstellungen in der EU - über alle fairen, die demographischen Unterschiede berücksichtigenden, institutionellen Regeln hinweg - durchsetzen, wird der europäische Einigungsprozess seine Legitimation verlieren.

Für Deutschland steht nicht nur seine Reputation als Quelle wirtschaftlicher Dynamik und Anker monetärer Stabilität innerhalb der EU auf dem Spiel. Es könnte damit auch die Hauptsäule seines Einflusses in der internationalen Politik weiter zerstören - nämlich seine Fähigkeit als ,,ehrlicher Makler" zu agieren, um es in Bismarcks berühmten Worten auszudrücken.

Die Nachkriegsarchitektur der deutschen Außenpolitik bestand aus mehreren Brücken - die in die USA, nach Frankreich, Großbritannien, in die kleineren EU-Mitgliedsländer, nach Mittel- und Osteuropa und nach Russland reichten. Die deutsche Diplomatie vermied es, sich zwischen Paris und Washington, zwischen Moskau und Warschau, der EU und der NATO, zwischen kleinen und großen Nachbarländern entscheiden zu müssen. Wenn eine solche Entscheidung nötig war, gab man Amerika den Vorzug vor Frankreich.

Der Gaullismus oder die Vision eines Frankreich angeführten europäischen Gegengewichts zu den USA, stellte für Deutschland nie eine Option dar. Ebenso wenig natürlich auch die euroskeptische britische Version des Atlantizismus. Für alle deutschen Kanzler von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl war Frankreich der bevorzugte europäische Partner, aber sie lehnten französische Angebote zur Bildung einer ,,französisch-deutschen Union" ab, die den vermittelnden Charakter der deutschen Außenpolitik zerstören würde.

Tragischerweise wurden die Brücken in die USA und nach Mittel- und Osteuropa durch die deutsche Diplomatie während der Irakkrise zerstört. Nun ist man dabei, die Brücke zu den kleineren EU-Mitgliedsländern zu zerstören, da der teutonische Riese sich nicht an den Wachstums- und Stabilitätspakt hält.

Was den Euro betrifft, müssen die Deutschen akzeptieren, dass sie ihren Finanzhaushalt in Ordnung bringen müssen, wenn sie weiterhin als gute Europäer gelten wollen. Denn was auch immer an nationalen Reformen durchgeführt wird oder nicht, wird Auswirkungen auf Deutschlands Partner haben.

Hinsichtlich der Zukunft des ,,harten Kerns" in Europa ist festzustellen, dass diese Idee aus deutscher Sicht nur dann sinnvoll ist, wenn dadurch die Rolle Deutschlands als Moderator nicht beschränkt wird. Die beste Lösung für Europa wäre ein innerer Kreis, der zumindest aus Frankreich, Deutschland und Großbritannien bestünde. Diese drei Länder repräsentieren sämtliche außenpolitische Traditionen, die in einer EU mit 25 Mitgliedern vorhanden sind.

Diese Traditionen unter einen Hut zu bringen, könnte der Quadratur des Kreises gleichkommen. Aber die Alternative wäre ein geteiltes Europa, das wohl niemand als Schwergewicht in der Weltpolitik ernst nehmen würde. Ein derartiges Ergebnis sollte wohl kein wirklicher Europäer in Frankreich oder Deutschland zulassen.

https://prosyn.org/ofcSqdUde