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Interdependenz im 21. Jahrhundert

MADRID: Von all den Lehren, die sich aus dem seit Russlands Einmarsch in der Ukraine vergangenen Jahr ziehen lassen, ragt eine heraus: Globale Interdependenz garantiert keinen Frieden und muss an die durch jüngste Ereignisse aufgedeckten Realitäten angepasst werden.

Laut Joseph S. Nye, Jr. (Harvard) und Robert O. Keohane (Princeton) bezeichnet Interdependenz die gegenseitige Abhängigkeitsbeziehung, die sich zwischen Staaten aufgrund von deren Interaktionen – insbesondere Wirtschafts- und Handelsverbindungen – entwickelt. Angesichts der Verflechtungen zwischen Märkten und Politik (einschließlich der Geopolitik) sind Staaten aufeinander angewiesen, um ihre Sicherheit (einschließlich der Sicherheit ihrer Energieversorgung) zu steigern und Wirtschaftswachstum und Entwicklung zu erreichen.

In den letzten Jahrzehnten nahm die Interdependenz im politischen Denken des Westens eine privilegierte Rolle ein. Während eine Neubetrachtung des Konzepts unvermeidlich ist, wäre es unehrlich und unproduktiv, den positiven Beitrag zu ignorieren, die sie bei der Förderung globaler Stabilität und der Sicherheit in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs geleistet hat.

Der Erfolg des europäischen Projekts beruht stark auf der Wirkung der Interdependenz. Die Entwicklung von Wirtschafts- und Handelsbeziehungen förderte die Entstehung gemeinsamer Interessen zwischen Europas Ländern und bescherte einem kriegsverheerten Kontinent Jahrzehnte des Friedens – eine Leistung, die man würdigen sollte.

Die Interdependenz war zudem das Fundament, auf dem der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt seine 1969 eingeleitete Ostpolitik aufbaute. Brandt setzte auf die damals riskante Vorstellung, dass vertiefte diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem Westen die Wahrscheinlichkeit verringern würden, dass der Kalte Krieg sich in einen heißen Krieg verwandeln würde. Dies erwies sich als diplomatische Glanzleistung: Die Politik trug zur Entspannung zwischen beiden Seiten bei.

Zu Beginn dieses Jahrhunderts war die Globalisierung im vollen Gange. Im Westen galt Interdependenz weithin als Synonym für globale Stabilität – eine Vorstellung, die selbst dann noch Bestand hatte, als Ereignisse wie die Terroranschläge vom 11.  September 2001 in den USA die von der Globalisierung ausgehenden Risiken verdeutlichten. Tatsächlich folgte nur drei Monate nach dem 11. September die Aufnahme Chinas in die Welthandelsorganisation, was das fortgesetzte Vertrauen des Westens in das Potenzial der Interdependenz zur Förderung einer Annäherung demonstrierte.

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Der russische Präsident Wladimir Putin jedoch hat gezeigt, wie Politiker die Interdependenz nutzen können, um Nötigungstaktiken zu verfolgen. Die Ukraine hat in Putins imperialen Ambitionen immer eine zentrale Rolle gespielt. Im Verlauf des letzten Jahrzehnts war sie Gegenstand von Debatten nicht nur über den Platz des Landes in der europäischen Sicherheitsordnung, sondern auch über seine Stellung in einer zunehmend von Handelsbeziehungen bestimmten Welt.

Putin hat Jahre damit zugebracht, den Handel mit den ehemaligen Sowjetrepubliken und dem übrigen Europe zu vertiefen – nicht, um die Grundlagen des Friedens auf dem Kontinent zu stärken, sondern um Russlands geopolitischen Einfluss zu vergrößern. Ein entscheidender Schritt in Putins Strategie der Neuerrichtung der Sowjetunion mit anderen Mitteln (nämlich durch Handel) war diesbezüglich die Gründung der Eurasischen Zollunion im Jahre 2010.

Die Ukraine jedoch entschied sich gegen einen Beitritt zur Zollunion und bemühte sich stattdessen um ein Assoziierungsabkommen mit der EU. Dies hinzunehmen war Putin nicht bereit, und er setzte den damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch unter Druck, die Vorbereitungen für das Abkommen Ende 2013 auszusetzen.

Man kann argumentieren, dass dies der Moment war, an dem der russische Krieg gegen die Ukraine begann. Im Februar 2014 versammelten sich tausende Ukrainer auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, um gegen die Entscheidung zu protestieren. Die sogenannte Revolution der Würde endete mit dem Sturz Janukowitschs, was im Kreml Befürchtungen weckte, dass Russland dabei sei, die Ukraine zu verlieren. Innerhalb eines Monats hatte Russland die Krim annektiert, und von Russland unterstützte Separatisten hatten einen Krieg in der Donbass-Region im Osten der Ukraine begonnen. Die großangelegte Invasion vom vergangenen Februar markierte den Beginn eines tragischen neuen Kapitels in diesem Krieg.

Doch noch unmittelbar vor der Invasion – als hunderte führender Politiker aus aller Welt in Abwesenheit einer russischen Delegation bei der Münchener Sicherheitskonferenz zusammenkamen – traf die Vorstellung eines russischen Angriffs auf Unglauben. Das lag auch daran, dass das Vertrauen in die abschreckende Wirkung der Interdependenz trotz der massenhaften russischen Truppenpräsenz vor der ukrainischen Grenze stark blieb.

Würde Russland einen Krieg gegen die Ukraine beginnen, so die Beobachter, würden ihm astronomische wirtschaftliche Kosten entstehen. Auch die übrige Weltwirtschaft würde enorm leiden. Wenig später erwies sich die Hoffnung auf die friedenschaffende Logik der Interdependenz als unbegründet.

Ein Jahr nach Russlands Einmarsch in der Ukraine ist klar, dass Interdependenz allein keine stabile Basis für Frieden oder selbst für Annäherung ist. Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mögen helfen, die Interessen von Ländern zur Deckung zu bringen, aber sie bringen keine verantwortungsvollen geopolitischen Akteure hervor. Im Gegenteil: Konstruktive Interdependenz setzt verantwortungsvolle politische Führer voraus.

Der russische Einmarsch in der Ukraine hat uns Europäern bewusst gemacht, dass Interdependenz – oder vielmehr: Abhängigkeiten – uns anfälliger machen können, als wir dachten. Die Lehre daraus ist klar: Wir müssen bei der Auswahl unserer Interdependenzen sorgfältiger sein. Die EU, lange ein Befürworter gegenseitiger Vernetzung, hat sich dies zu Herzen genommen, insbesondere was die Energieversorgung angeht. Die Veränderungen waren drastisch, umfangreich und begrüßenswert: In nur einem Jahr hat die EU den Anteil russischen Pipeline-Gases an ihrer Gesamtversorgung von 40 % auf lediglich 8 % reduziert.

Die EU muss zudem ihre potenziell riskanten Abhängigkeiten in anderen strategisch wichtigen Sektoren wie Gesundheit, Verteidigung und Technologie verringern. Zugleich jedoch muss sie ihren Dialog mit der übrigen Welt aufrechterhalten und vertiefen. Wie Bundeskanzler Olaf Scholz vor seiner Reise nach Peking im vergangenen November schrieb, muss Europa eine übermäßige Abhängigkeit von Wettbewerbern wie China vermeiden, aber sollte nicht danach streben, die Beziehungen abzubrechen.

Wir haben im letzten Jahr gelernt, dass Interdependenz keinen Krieg verhindern kann. Wir wissen jedoch auch, dass eine Abkehr von der Interdependenz die Antithese des europäischen Projekts darstellt und mit dem zur Lösung globaler Probleme erforderlichen Multilateralismus unvereinbar ist. Ganz gleich, wie Interdependenz in den kommenden Jahren neu gedacht wird: Für die zentralen Interessen und wichtigen Ziele der Europäer bleibt sie unverzichtbar.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/Jht4BXyde