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Dem Zentrismus eine Chance geben

NEW YORK – Die fortschrittliche Intelligenz Europas macht sich gern über den politischen „Zentrismus” lustig. Eine fehlgeleitete Fokussierung auf den Mittelweg, so argumentieren Kritiker, verhindere die Formulierung politischer Alternativen und führe zum Aufstieg extremistischer Parteien auf der linken und rechten Seite. Durch diese Brille betrachtet, sind die Begleiterscheinungen des Zentrismus Populismus, Polarisierung und schließlich wachsendes Misstrauen gegenüber demokratischen Prinzipien.

Diese Analyse ist durchaus nicht völlig verkehrt. Demokratie erfordert offene und kontroverse Gespräche über den besten Weg nach vorn. Die Tür zu politischen Alternativen zu schließen, indem man den Status quo blindlings umarmt, ist das Rezept für eine Katastrophe. „Die Debatte ist nie zu Ende”, schrieb der verstorbene polnischstämmige Soziologe Zygmunt Bauman. „Das kann sie gar nicht, sonst wäre die Demokratie nicht mehr demokratisch.”

Dies bedeutet jedoch nicht, dass die politischen Parteien der linken Mitte dem Pragmatismus und der Mäßigung den Rücken kehren sollten. Tatsächlich deuten einige der aktuellen Wahlkampf-Hotspots der Welt darauf hin, dass sie das Gegenteil tun sollten. Trotz der zunehmenden politischen Polarisierung in vielen Ländern scheint sich eine große Zahl von Wählern mit zentristischen Positionen wesentlich wohler zu fühlen, als oft angenommen wird.

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