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Wenn Linke nach rechts außen abwandern

MÜNCHEN – Was haben Tulsi Gabbard, Robert F. Kennedy, Jr. und Sahra Wagenknecht gemeinsam? Sie alle scheinen ans andere Ende des politischen Spektrums abgewandert zu sein. Gabbard und Kennedy sind beides ehemalige Demokraten, die inzwischen lautstark Donald Trump unterstützen, und Wagenknecht hat sich vom äußersten linken Rand der Partei „Die Linke“ dem schrillen Nationalismus zugewandt. Anfang des Jahres gründete sie eine neue Partei, die bescheiden nach ihr benannt wurde. Nach seinen Erfolgen bei den Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern in diesem Herbst scheint es wahrscheinlich, dass das Bündnis Sahra Wagenknecht bei der Bundestagswahl 2025 in den Bundestag einziehen wird.

Handelt es sich bei diesen politischen Wanderungen um einen rein opportunistischen Verrat an Prinzipien, oder steckt etwas Komplizierteres dahinter? Eine offensichtliche Erklärung ist psychologischer Art: Bewegungen quer durch das politische Spektrum bringen die wertvolle Währung der Aufmerksamkeit. Wer mediale Aufmerksamkeit gewohnt ist, braucht manchmal eine dramatische Geste, um wieder in die Schlagzeilen zu kommen. Aber die Grenzen einer derart reduktionistischen Erklärung liegen auf der Hand: Die meisten – wenn nicht alle – Politiker sind aufs Rampenlicht aus, aber nur sehr wenige wechseln Parteien und Positionen.

Eine interessantere Erklärung ergibt sich aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Als Kommunisten und Faschisten ihre Kräfte gegen den Liberalismus zu bündeln schienen, machte das die Welt mit der Idee sich berührender Extreme bekannt („les extrêmes se touchent“) – später als Hufeisentheorie des politischen Extremismus bezeichnet. Die Weimarer Republik brachte merkwürdige rotbraunen Mischungen hervor, als politische Unternehmer arbeiterfreundliche Positionen mit radikalem Nationalismus verbanden, um eine „Querfront“ – ein das gesamte politische Spektrum überspannendes Bündnis – zu propagieren. Freilich blieben die Anhänger des „preußischen Sozialismus“ oder von Gregor Strassers linker Version des Nationalsozialismus stets in der Minderheit (Strasser selbst wurde 1934 von Hitlers Schergen ermordet).

Die Hufeisentheorie beruht auf der Annahme, dass Antiliberalismus früher oder später zwangsläufig dazu führt, dass man die Positionen der offiziellen politischen Gegner übernimmt. Doch trifft dies womöglich nur auf einer sehr abstrakten Ebene zu. Sozialisten und eine bestimmte Art von Konservativen können beide den Kapitalismus kritisieren, aber die Art ihrer Kritik wird sich unterscheiden. Der Konservative beklagt womöglich die Zerstörung traditioneller Lebensweisen, während sich der Sozialist über den Mangel an Freiheit der Arbeitnehmer beschwert. Ebenso können politische Rezepte auf einer abstrakten Ebene ähnlich aussehen – sowohl Konservative als auch Sozialisten treten womöglich für kleinere genossenschaftliche Gemeinschaften ein –, aber die Details werden sich drastisch unterscheiden.

Die Hufeisentheorie lässt sich zudem leicht von Linken missbrauchen, weil sie einen doppelten Schlag gegen Kritik von weiter links ermöglicht. Diese kann so nicht nur als extremistisch, sondern sogar als nazistisch bezeichnet werden. Wenige polemische Schachzüge sind effektiver.

Wagenknechts politischer Weg ist allerdings der einzige, der auf einem umfassenden Antiliberalismus zu beruhen scheint. Kennedy und Gabbard dagegen scheinen von der Idee beseelt, dass ein Thema von so überragender Bedeutung ist, dass es einen Lagerwechsel rechtfertigt.

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Was Kennedy angeht, so scheint er besessen von den Impfstoffen, auf deren mangelnder Sicherheit er beharrt, obwohl alle derartigen Behauptungen umfassend widerlegt wurden. Für Gabbard sind die „ewigen Kriege“ der USA das Thema. Sie ist offenbar zu dem Schluss gekommen, dass Trump im Amt ein Friedensstifter wäre. Für Kennedy ist Trump ein potenzieller Gesundheitsbringer, weil er angeblich zusätzliche Maßnahmen zur Bekämpfung „chronischer Krankheiten“ anstrebt (laut Berichten ersuchte Kennedy auch um ein Treffen mit dem Team von Kamala Harris, das aber kein Interesse an seinen Avancen zeigte).

Politiker, die die Seite wechseln, sehen sich mit einer offensichtlichen Frage konfrontiert: Warum haben sie sich überhaupt erst mit Leuten verbündet, die die überragende Bedeutung ihres Lieblingsthemas nicht sehen oder die grundlegend andere Schlüsse darüber gezogen haben? Nicht jeder wird darauf mit einer Verschwörungstheorie antworten, aber die Behauptung, die früheren politischen Verbündeten seien samt und sonders korrumpiert worden, ist sicherlich die einfachste Antwort. Es überrascht nicht, dass Kennedy dafür berüchtigt ist, gefährliche Verschwörungstheorien zu verbreiten, und Gabbard fabriziert seit Jahren Geschichten über Hillary Clinton, die von Gabbard als üble Kriegstreiberin dargestellt wird.

So also kann der Wechsel von Extrempositionen zur extremen Rechten vonstattengehen. Es beginnt mit einem Thema, das viel wichtiger ist als alle anderen, dem Ihre Verbündeten aber nicht die gleiche Dringlichkeit zubilligen. Wenn Sie bei diesen kein Gehör mehr finden, wenden Sie sich denjenigen zu, die Interesse an Ihnen haben. Aber die einzige Partei, die Interesse an Ihnen hat, ist diejenige, die eigene Gründe dafür hat, Ihr ehemaliges Team korrupt aussehen zu lassen.

Wagenknechts Geschichte ist etwas komplizierter. Sie ist eine begabte Rhetorikerin und regelmäßiger Gast in Fernsehsendungen und wiederholt erfolgreich zweifelhafte Behauptungen über Russlands Krieg gegen die Ukraine. Aber im Gegensatz zu Kennedy und Gabbard ist sie eine echte politische Strategin. Ihre Partei ist darauf ausgerichtet, den ihrer Meinung nach unbesetzten politischen Raum – Nationalismus in Kombination mit Sozialismus – in der deutschen Mehrparteienlandschaft zu füllen, und sie hat Keilthemen aufgegriffen, um andere Parteien zu spalten.

So sieht Wagenknecht den Krieg in der Ukraine als Möglichkeit, sowohl Sozialdemokraten als auch Christdemokraten zu spalten. Nach den diesjährigen Wahlen in Ostdeutschland erklärten sich die Christdemokraten zu Koalitionsgesprächen mit ihrem Bündnis bereit, um die rechtsextreme Alternative für Deutschland in diesen Bundesländern von der Macht fernzuhalten. Doch nun besteht Wagenknecht darauf, dass jede Koalitionsvereinbarung Formulierungen über den Krieg enthält, von denen sie weiß, dass die CDU-Spitze sie nicht unterstützen kann (ganz davon abgesehen, dass Landesregierungen keine Außenpolitik betreiben).

Prominente Persönlichkeiten in ihrer eigenen Partei sind zu Kompromissen bereit, aber Wagenknecht, die ihr „Bündnis“ anscheinend eisern im Griff zu halten sucht, versucht, jede derartige Position zu diskreditieren. Wie Lenin scheint sie bereit, lieber die eigene Partei zu spalten, als die Kontrolle über sie zu verlieren und Abweichungen von der reinen ideologischen Linie zu tolerieren.

Natürlich sollte das politische System in einer Demokratie offen sein. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn politische Innovatoren neue Konfliktlinien ziehen; dies ermöglicht politische Neuausrichtungen. Problematisch wird es, wenn sich diese Innovatoren auf Verschwörungstheorien stützen und versuchen, ihre Gegner und das politische System im Allgemeinen zu delegitimieren.

Quinn Slobodian und Will Callison bezeichnen das letztgenannte Phänomen als „Diagonalismus“ und schreiben: „Im Extremfall teilen diagonale Bewegungen die Überzeugung, dass alle Macht eine Verschwörung ist.“ Slobodian und Callison identifizierten das „diagonale Denken“ – der Begriff beruht auf der englischen Übersetzung des deutschen „Querdenken“ – erstmals während der Pandemie, als prominente aktivistische Impfgegner Proteste gegen die öffentliche Gesundheitspolitik schürten, die häufig linksgerichtete New-Age-Typen und rechtsgerichtete Agitatoren vereinten.

Inzwischen scheint sich der Diagonalismus in einer Welt medialer Paralleluniversen auszubreiten. Dort findet man eine Menge aufgestauter politischer Unzufriedenheit über Einzelthemen von „überragender Bedeutung“ – worum auch immer es sich dabei jeweils auch handeln mag.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/g4bBs1ide