LONDON: Japans Reaktion auf den russischen Einmarsch in der Ukraine und die kurz zuvor von Russland und China verkündete „strategische Partnerschaft“ war beeindruckend bestimmt. Der Vorschlag der Regierung zu einer annähernden Verdoppelung des Verteidigungshaushalts des Landes während der nächsten fünf Jahre zeigt politischen Realismus und praktische Entschlossenheit. Die zentrale Frage ist jetzt, wofür das Geld ausgegeben werden sollte.
In seinen neuen nationalen Sicherheits- und Verteidigungsstrategien erkennt Japan an, dass es zur seiner Verteidigung und zur Wahrung des Friedens in der Region weiterhin mit Verbündeten zusammenarbeiten muss – insbesondere den USA, mit denen es seit 1951 ein Sicherheitsabkommen geschlossen hat. Doch enthalten diese Dokumente zugleich Neues. Die Regierung bekundet darin öffentlich ihre Entschlossenheit, selbst die Führungsrolle bei Japans Verteidigung zu übernehmen und andere von Versuchen „einseitiger Veränderungen des Status quo“ abzuschrecken.
Dieses Bekenntnis zur Abschreckung ist die wichtigste Aufgabe, die Japan sich gestellt hat. Aber auch die schwierigste. Es bedeutet, vor einem konventionellen oder nuklearen nordkoreanischen Angriff abzuschrecken. Es bedeutet, einen Angriff durch Russland abzuschrecken (etwa von den vier Kurilen vor der Nordküste Japans, die die Sowjetunion in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs annektierte). Vor allem aber bedeutet es, vor Schritten Chinas gegen Taiwan oder gegen Japans strategisch gelegene Nansei-Inseln in der Nähe Taiwans abzuschrecken.
Jeder weiß, dass mit „einseitige Veränderungen des Status quo“ in erster Linie eine chinesische Invasion oder Blockade Taiwans gemeint ist. Der japanische Ministerpräsident Fumio Kishida hat das Thema bereits im Juni 2022 beim IISS Shangri-La-Dialog in Singapur angesprochen, wo er in seiner Grundsatzrede warnte, dass was heute in der Ukraine geschieht morgen in Ostasien passieren könne.
Für jene uns, die während des Kalten Krieges aufwuchsen, beschwört das Wort „Abschreckung“ Nuklearwaffen und die furchterregende, aber letztlich beruhigende Doktrin der „sicheren wechselseitigen Zerstörung“ herauf. Doch Japan hat diese Option nicht. Spekulationen über einen potenziellen japanischen Erwerb von Nuklearwaffen sind nichts weiter als eben Spekulationen: Die Japaner werden diesen Weg so schnell nicht einschlagen – und mit Sicherheit nicht unter Kishida, dessen Heimatstadt Hiroshima ist.
Japans neuer Aufbau von Verteidigungskapazitäten spiegelt zugleich die nüchterne Erkenntnis wider, dass sich das Land womöglich nicht in alle Ewigkeit auf den Schutz durch die USA (ob nuklear oder anderweitig) verlassen kann. Das gilt besonders für den Fall, dass Japan künftig keinen erheblichen Beitrag zur umfassenden gemeinsamen Aufgabe der Abschreckung Chinas, Russlands und Nordkoreas leistet.
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Aus diesem Grund schließt die neue Strategie eine ins Auge springende Erwähnung des Erwerbs und Aufbaus von „Gegenschlagskapazitäten“ ein. Gemeint sind Raketen, von denen potenzielle Feinde wissen, dass sie für schnelle Vergeltungsschläge oder sogar Präventivschläge genutzt werden können. Obwohl die Idee von Kapazitäten für Präventivschläge kontrovers bleibt, ist das grundlegende Ziel dabei nicht der Einsatz der neuen Raketen, sondern dass andere wissen, dass man sie hat. Das ist der Kern der Abschreckung.
Die beiden wichtigsten Merkmale derartiger Kapazitäten sind Geschwindigkeit und Durchschlagskraft. Entscheidend für eine glaubwürdige Abschreckung sind zudem qualitativ hochwertige nachrichtendienstliche Erkenntnisse – egal, ob sie allein oder in Zusammenarbeit mit den USA gesammelt werden. Nur wenn diese vorliegen, kann die Durchschlagskraft der Gegenschlagskapazitäten auch mit der erforderlichen Geschwindigkeit eingesetzt werden. Zur Stärkung der Fähigkeit Japans zur Abschreckung potenzieller Feinde im Norden und Westen – Russland und Nordkorea – ist der Aufbau glaubwürdiger Gegenschlagskapazitäten unverzichtbar.
Der Gegner im Süden jedoch – China – stellt eine schwierigere Herausforderung dar. In den letzten Jahren hat Japan seine Ablehnung „einseitiger Veränderungen des Status quo“ in Bezug auf Taiwan und das Ostchinesische Meer sehr viel klarer signalisiert. Es hat zudem deutlich gemacht, dass seine Streitkräfte die US-Truppen im Falle eines Konflikts mit China unterstützen würden. Doch auch die Abschreckung in diesen Regionen ist davon abhängig, dass Japan glaubwürdig schnell und durchschlagsstark reagieren kann.
Dafür muss Japan nicht nur seine See-, Land- und Luftstreitkräfte modernisieren und vergrößern; es muss auch die Art und Weise ändern, wie diese eingesetzt werden. Obwohl die japanischen maritimen Verteidigungsstreitkräfte – anderswo schlicht als Marine bezeichnet – und die große, gut bewaffnete Flotte der japanischen Küstenwache überall in den riesigen Hoheitsgewässern des Landes operieren, verfügen weder sie noch die Armee oder die Luftwaffe über bedeutsame Stützpunkte oder Nachschubdepots auf den in Nähe Taiwans gelegenen südlichen Nansei-Inseln.
Ohne derartige Stützpunkte spielt es große keine Rolle, wie stark die japanischen Streitkräfte werden, weil es trotzdem zu schwierig wäre, sie rasch in die wahrscheinlichsten Konfliktzonen zu verlagern. Und ganz wichtig: Es wäre unmöglich, den chinesischen Strategen zu vermitteln, dass Japan tatsächlich zu einer raschen Mobilisierung in der Lage ist. Wenn man erst nach Wochen oder gar Monaten zu einem Militäreinsatz beitragen kann, dürfte das kaum eine ernste Abschreckungswirkung haben.
Die gemeinsame Nutzung der US-Stützpunkte sowohl auf der Hauptinsel Honshu als auch auf der südlichen Insel Okinawa könnte helfen. Doch der größte Beitrag wäre, wenn China wüsste, dass jeder Versuch einer Invasion Taiwans oder von Zwangsmaßnahmen gegenüber der Insel durch eine kraftvolle militärische Antwort in der Nähe stationierter japanischen Streitkräfte beantwortet würde. Hierzu bedarf es der Errichtung ordnungsgemäßer Militärstützpunkte auf den am weitesten südlich gelegenen Inseln.
Auch dies wird nicht einfach. Die politischen Sensibilitäten über die von Tokio ausgehende Herrschaft sind auf diesen südlichen Inseln gleichermaßen ausgeprägt wie weiter nördlich auf Okinawa. Die Versorgung derartiger Stützpunkte und ihre Herrichtung für ihre langfristige, ganzjährige Nutzung werden teuer. Doch ist dies der wahre Test der neuen japanischen Verteidigungsstrategie für die nächsten fünf Jahre und darüber hinaus. Reichen die japanischen Kapazitäten aus, um die Risikokalkulationen der chinesischen Militärplaner zu beeinflussen? Denn das ist letztlich, was Abschreckung erfordert.
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At the end of a year of domestic and international upheaval, Project Syndicate commentators share their favorite books from the past 12 months. Covering a wide array of genres and disciplines, this year’s picks provide fresh perspectives on the defining challenges of our time and how to confront them.
ask Project Syndicate contributors to select the books that resonated with them the most over the past year.
LONDON: Japans Reaktion auf den russischen Einmarsch in der Ukraine und die kurz zuvor von Russland und China verkündete „strategische Partnerschaft“ war beeindruckend bestimmt. Der Vorschlag der Regierung zu einer annähernden Verdoppelung des Verteidigungshaushalts des Landes während der nächsten fünf Jahre zeigt politischen Realismus und praktische Entschlossenheit. Die zentrale Frage ist jetzt, wofür das Geld ausgegeben werden sollte.
In seinen neuen nationalen Sicherheits- und Verteidigungsstrategien erkennt Japan an, dass es zur seiner Verteidigung und zur Wahrung des Friedens in der Region weiterhin mit Verbündeten zusammenarbeiten muss – insbesondere den USA, mit denen es seit 1951 ein Sicherheitsabkommen geschlossen hat. Doch enthalten diese Dokumente zugleich Neues. Die Regierung bekundet darin öffentlich ihre Entschlossenheit, selbst die Führungsrolle bei Japans Verteidigung zu übernehmen und andere von Versuchen „einseitiger Veränderungen des Status quo“ abzuschrecken.
Dieses Bekenntnis zur Abschreckung ist die wichtigste Aufgabe, die Japan sich gestellt hat. Aber auch die schwierigste. Es bedeutet, vor einem konventionellen oder nuklearen nordkoreanischen Angriff abzuschrecken. Es bedeutet, einen Angriff durch Russland abzuschrecken (etwa von den vier Kurilen vor der Nordküste Japans, die die Sowjetunion in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs annektierte). Vor allem aber bedeutet es, vor Schritten Chinas gegen Taiwan oder gegen Japans strategisch gelegene Nansei-Inseln in der Nähe Taiwans abzuschrecken.
Jeder weiß, dass mit „einseitige Veränderungen des Status quo“ in erster Linie eine chinesische Invasion oder Blockade Taiwans gemeint ist. Der japanische Ministerpräsident Fumio Kishida hat das Thema bereits im Juni 2022 beim IISS Shangri-La-Dialog in Singapur angesprochen, wo er in seiner Grundsatzrede warnte, dass was heute in der Ukraine geschieht morgen in Ostasien passieren könne.
Für jene uns, die während des Kalten Krieges aufwuchsen, beschwört das Wort „Abschreckung“ Nuklearwaffen und die furchterregende, aber letztlich beruhigende Doktrin der „sicheren wechselseitigen Zerstörung“ herauf. Doch Japan hat diese Option nicht. Spekulationen über einen potenziellen japanischen Erwerb von Nuklearwaffen sind nichts weiter als eben Spekulationen: Die Japaner werden diesen Weg so schnell nicht einschlagen – und mit Sicherheit nicht unter Kishida, dessen Heimatstadt Hiroshima ist.
Japans neuer Aufbau von Verteidigungskapazitäten spiegelt zugleich die nüchterne Erkenntnis wider, dass sich das Land womöglich nicht in alle Ewigkeit auf den Schutz durch die USA (ob nuklear oder anderweitig) verlassen kann. Das gilt besonders für den Fall, dass Japan künftig keinen erheblichen Beitrag zur umfassenden gemeinsamen Aufgabe der Abschreckung Chinas, Russlands und Nordkoreas leistet.
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Aus diesem Grund schließt die neue Strategie eine ins Auge springende Erwähnung des Erwerbs und Aufbaus von „Gegenschlagskapazitäten“ ein. Gemeint sind Raketen, von denen potenzielle Feinde wissen, dass sie für schnelle Vergeltungsschläge oder sogar Präventivschläge genutzt werden können. Obwohl die Idee von Kapazitäten für Präventivschläge kontrovers bleibt, ist das grundlegende Ziel dabei nicht der Einsatz der neuen Raketen, sondern dass andere wissen, dass man sie hat. Das ist der Kern der Abschreckung.
Die beiden wichtigsten Merkmale derartiger Kapazitäten sind Geschwindigkeit und Durchschlagskraft. Entscheidend für eine glaubwürdige Abschreckung sind zudem qualitativ hochwertige nachrichtendienstliche Erkenntnisse – egal, ob sie allein oder in Zusammenarbeit mit den USA gesammelt werden. Nur wenn diese vorliegen, kann die Durchschlagskraft der Gegenschlagskapazitäten auch mit der erforderlichen Geschwindigkeit eingesetzt werden. Zur Stärkung der Fähigkeit Japans zur Abschreckung potenzieller Feinde im Norden und Westen – Russland und Nordkorea – ist der Aufbau glaubwürdiger Gegenschlagskapazitäten unverzichtbar.
Der Gegner im Süden jedoch – China – stellt eine schwierigere Herausforderung dar. In den letzten Jahren hat Japan seine Ablehnung „einseitiger Veränderungen des Status quo“ in Bezug auf Taiwan und das Ostchinesische Meer sehr viel klarer signalisiert. Es hat zudem deutlich gemacht, dass seine Streitkräfte die US-Truppen im Falle eines Konflikts mit China unterstützen würden. Doch auch die Abschreckung in diesen Regionen ist davon abhängig, dass Japan glaubwürdig schnell und durchschlagsstark reagieren kann.
Dafür muss Japan nicht nur seine See-, Land- und Luftstreitkräfte modernisieren und vergrößern; es muss auch die Art und Weise ändern, wie diese eingesetzt werden. Obwohl die japanischen maritimen Verteidigungsstreitkräfte – anderswo schlicht als Marine bezeichnet – und die große, gut bewaffnete Flotte der japanischen Küstenwache überall in den riesigen Hoheitsgewässern des Landes operieren, verfügen weder sie noch die Armee oder die Luftwaffe über bedeutsame Stützpunkte oder Nachschubdepots auf den in Nähe Taiwans gelegenen südlichen Nansei-Inseln.
Ohne derartige Stützpunkte spielt es große keine Rolle, wie stark die japanischen Streitkräfte werden, weil es trotzdem zu schwierig wäre, sie rasch in die wahrscheinlichsten Konfliktzonen zu verlagern. Und ganz wichtig: Es wäre unmöglich, den chinesischen Strategen zu vermitteln, dass Japan tatsächlich zu einer raschen Mobilisierung in der Lage ist. Wenn man erst nach Wochen oder gar Monaten zu einem Militäreinsatz beitragen kann, dürfte das kaum eine ernste Abschreckungswirkung haben.
Die gemeinsame Nutzung der US-Stützpunkte sowohl auf der Hauptinsel Honshu als auch auf der südlichen Insel Okinawa könnte helfen. Doch der größte Beitrag wäre, wenn China wüsste, dass jeder Versuch einer Invasion Taiwans oder von Zwangsmaßnahmen gegenüber der Insel durch eine kraftvolle militärische Antwort in der Nähe stationierter japanischen Streitkräfte beantwortet würde. Hierzu bedarf es der Errichtung ordnungsgemäßer Militärstützpunkte auf den am weitesten südlich gelegenen Inseln.
Auch dies wird nicht einfach. Die politischen Sensibilitäten über die von Tokio ausgehende Herrschaft sind auf diesen südlichen Inseln gleichermaßen ausgeprägt wie weiter nördlich auf Okinawa. Die Versorgung derartiger Stützpunkte und ihre Herrichtung für ihre langfristige, ganzjährige Nutzung werden teuer. Doch ist dies der wahre Test der neuen japanischen Verteidigungsstrategie für die nächsten fünf Jahre und darüber hinaus. Reichen die japanischen Kapazitäten aus, um die Risikokalkulationen der chinesischen Militärplaner zu beeinflussen? Denn das ist letztlich, was Abschreckung erfordert.
Aus dem Englischen von Jan Doolan