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Schizophrenie beim IWF

NEU DELHI – Auch wenn es viel zu lang gedauert hat, scheint es so, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) nun endlich einige unangenehme Wahrheiten über die Verringerung der Staatsschulden erkannt hat. Die wichtigste davon ist, dass wachsenden Volkswirtschaften die Rückzahlung erleichtert werden sollte. Daher untergräbt fiskale Konsolidierung – die bevorzugte Strategie des IWF – die Verringerung der Schuldenquoten, weil sie das Wirtschaftswachstum behindert.

Diese Einsicht ist natürlich nicht neu. Vor fast einem Jahrhundert wurde sie bereits von John Maynard Keynes betont und seitdem vielfach bestätigt. Sicherlich war sie auch den Architekten des Londoner Schuldenabkommen von 1953 bekannt, mit dem die Staatsverschuldung Westdeutschlands dramatisch verringert wurde. Im Rahmen dieses Abkommens zwischen Deutschland und zwanzig seiner externen Gläubiger wurden vorteilhafte Rückzahlungsbedingungen vereinbart, die mit den zukünftigen Exporten des Landes verknüpft waren und die Voraussetzungen für den deutschen Nachkriegsboom schufen.

Trotzdem, besser spät als nie. In seinem jüngsten Weltwirtschaftsausblick stellt der IWF die Ergebnisse seiner eigenen Untersuchung verschiedener Umschuldungsprogramme vor, die zwischen 1980 und 2019 in 33 Entwicklungs- und Schwellenländern sowie 21 Industriestaaten durchgeführt wurden. „Im Durchschnitt“, so schreiben die Verfasser dort, „haben Konsolidierungen keinen statistisch signifikanten Einfluss auf die Schuldenquote“. Höheres Wirtschaftswachstum – „in Form von positiven Nachfrage- und Angebotsschocks“ – hingegen sei „ein wichtiger Einflussfaktor“, auf den in diesem Zeitraum etwa ein Drittel der beobachteten Schuldenreduzierung zurückgeführt werden konnte. In der Analyse heißt es sogar, die Schuldenquoten hätten sich in einigen Fällen durch fiskale Expansion verbessert – hauptsächlich durch deren positiven Effekt auf das BIP-Wachstum.

Haushaltskonsolidierung, so schreiben die Verfasser, wirkt wahrscheinlich eher bei einer wachsenden Wirtschaft unter positiven finanziellen Bedingungen. Aber angesichts dessen, dass solche Bedingungen nicht immer gegeben sind und Kürzungen tendenziell das Wachstum behindern, haben sich Sparmaßnahmen in schuldengeplagten Ländern nur selten positiv ausgewirkt.

Wie es im IWF-Bericht heißt, könnten die Entschuldungsbemühungen durch „unerwartete Transfers“ hin zu staatseigenen Unternehmen sowie unvorhersehbare Währungsabwertungen untergraben werden. Nicht erwähnt wird allerdings, dass diese Entwicklungen häufig eine unbeabsichtigte Folge der IWF-Programme selbst sind, da diese die verschuldeten Länder meist dazu zwingen, ihre Wechselkurse freizugeben, die Zinsen zu erhöhen und staatliche Subventionen zu verringern – und damit die Kosten für Unternehmen zu erhöhen. Andererseits heißt es im Bericht, dass Umschuldungsbemühungen dann erfolgreicher waren, wenn sie Ländern wieder zu Wachstum verholfen und wirtschaftliche Rückschläge verhindert haben.

Für jene, die die Wachstumskurven des letzten Jahrhunderts kennen, kommt dies sicher nicht überraschend. Und da der IWF erheblichen Einfluss auf die makroökonomische Politik anderer Länder und die wachsende Anzahl restrukturierungsbedürftiger Staaten hat, ist dieser Sinneswandel des Fonds enorm bedeutsam. Seit Jahrzehnten gründen die IWF-Programme auf der Annahme, die Kürzung öffentlicher Ausgaben sei der einzige Weg, um mit der Verschuldung fertig zu werden. Jetzt scheint der Fonds seine vergangenen Fehler zu erkennen.

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Unklar ist aber, ob diese willkommene (wenn auch späte) Kehrtwende über die Forschungsabteilung des IWF hinausgeht – und wie sie die Kreditvergabe des Fonds beeinflusst. Erste Hinweise darauf sind nicht gerade ermutigend. Die IWF-Führung hat sich wiederholt für eine schnellere und effektivere Umstrukturierung staatlicher Schulden ausgesprochen und hat, was man ihr zugute halten muss, kürzlich einen Runden Tisch öffentlicher und privater Gläubiger eingerichtet, um diesen Prozess zu beschleunigen. Aber die Reaktionen darauf waren bis jetzt langsam, schwerfällig, unzureichend und weitgehend ineffektiv. Entwicklungs- und Schwellenländer, die den Gemeinsamen Entschuldungsrahmen der G20 in Anspruch genommen haben, mussten übermäßige Verzögerungen, geopolitisches Gezänk und sture Gläubiger über sich ergehen lassen.

Schlimmer noch, die Beschäftigten des IWF scheinen ihren jüngsten Bericht entweder gar nicht zu kennen oder absichtlich zu ignorieren: Die jüngsten Finanzierungsprogramme des Fonds enthalten strenge Bedingungen, die der Bevölkerung und Wirtschaft der Entwicklungsländer wahrscheinlich extrem schaden.

Beispielsweise stellt die jüngste Vereinbarung zwischen dem IWF und Sri Lanka die fiskale Konsolidierung in den Mittelpunkt: Die Regierung wird verpflichtet, innerhalb von zwei Jahren einen Haushaltsüberschuss zu erzielen. Außerdem steht die Finanzierung unter der Bedingung höherer Energiepreise, höherer Zinsen und flexibler Währungskurse, die wahrscheinlich zur Währungsabwertung führen. Das Programm geht (unrealistischerweise) von höheren Einnahmen aus, ohne dass dafür Vermögenssteuern erhoben oder illegale Finanzflüsse beschränkt werden. All dies wird in einem Land, das bereits jetzt unter 53,6% Inflation leidet, die Nachfrage verringern und die Wirtschaft weiter bremsen. Auch andere geplante IWF-Programme für Ghana und Sambia konzentrieren sich vor allem auf ausgeglichene Haushalte.

Der IWF ist dabei nicht allein. Wie Isabel Ortiz und Matthew Cummins betonen, schränken viele Regierungen ihre öffentlichen Ausgaben ein, was einer neuen Welle der Sparsamkeit entspricht. Angesichts der weltweiten Häufung wirtschaftlicher und politischer Krisen könnte eine solche Rückkehr der Sparmaßnahmen schlimme Folgen haben, und dies nicht nur für die Wirtschaftsaktivitäten: In einer Zeit, in der zukünftige Gesundheitsgefahren immer wahrscheinlicher werden, könnten sie auch die globale Gesundheit gefährden – und unsere Fähigkeit, den Klimawandel zu bewältigen.

Dies ist nicht nur unnötig, sondern bewusst schädigend. Wenn sich bestimmte „Lösungen“ als unwirksam oder gar kontraproduktiv erwiesen haben, müssen sie zukünftig vermieden werden. Dass die IWF-Forscher endlich das Offensichtliche erkannt haben, ist zwar zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung, aber noch nicht genug. Nach Jahrzehnten vermeidbaren Elends ist es an der Zeit, dass der IWF seine Geldvergabe mit seinen eigenen Überzeugungen in Einklang bringt.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

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