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Der Ausnahmezustand der Fed

STANFORD – In den vergangenen Monaten haben immer mehr Wirtschaftsbeobachter ihre Besorgnis über den Anstieg der Inflation in den Vereinigten Staaten geäußert. Ein Großteil der Kommentare (einschließlich meines eigenen) rückt die offensichtliche Fortsetzung der lockeren Geldpolitik der US-Notenbank Fed angesichts steigender Preise in den Mittelpunkt. Trotz eines starken Anstiegs des Geldmengenwachstums führt die Fed nach wie vor ein groß angelegtes Programm zum Ankauf von Vermögenswerten durch (in Höhe von 120 Milliarden US-Dollar pro Monat) und hält den Leitzins (Federal Funds Rate) in einer Spanne von 0,05-0,1%.

Verglichen mit ähnlichen Zeiträumen in der jüngeren Geschichte ist dieser Leitzins außergewöhnlich niedrig. Um zu verstehen, warum er außergewöhnlich ist, muss man sich nur den Monetary Policy Report, den Bericht zur Geldpolitik, der Fed vom 9. Juli 2021 ansehen, der lang erprobte Regeln enthält, die einen höheren Leitzins als den aktuellen vorgeben würden. Eine dieser Regeln ist die „Taylor-Regel“, die besagt, dass die Fed ihren Zielwert für die Federal Funds Rate in Abhängigkeit von der Differenz zwischen der tatsächlichen und der angestrebten Inflation festlegen sollte.

Die Taylor-Regel, ausgedrückt in einer einfachen Gleichung, hat sich über die Jahre hinweg bewährt, wenn sie eingehalten wurde. Setzt man die aktuelle Inflationsrate der letzten vier Quartale (etwa 4%), die Lücke zwischen dem BIP und seinem Potenzial für das zweite Quartal 2021 (etwa -2%), eine Zielinflationsrate von 2% und einen sogenannten Gleichgewichtszinssatz von 1% ein, erhält man einen erwünschten Leitzins von 5 %.

Darüber hinaus besagt die Taylor-Regel, dass selbst wenn die Inflationsrate bis Ende dieses Jahres auf 2% sinkt (was deutlich unter den meisten Prognosen liegen würde) und die Wirtschaftsleistung ihr Potenzial erreicht, die Federal Funds Rate immer noch 3% betragen sollte. Das ist weit entfernt vom Niveau nahe Null, das die Fed bei der Kommunikation ihrer künftigen geldpolitischen Absichten (Forward Guidance) impliziert hat.

Da bei diesen Berechnungen die durchschnittliche Inflationsrate der letzten vier Quartale zugrunde gelegt wird, stehen sie im Einklang mit einer Form von „durchschnittlicher Inflationszielregelung“, die die Fed selbst im letzten Sommer befürwortet hat. Sie folgen auch dem kürzlich von der Fed selbst vorgeschlagenen Gleichgewichtszinssatz von 1% und nicht dem traditionell verwendeten Satz von 2%. Wäre letzterer verwendet worden, wäre die Diskrepanz zwischen dem Leitzins der geldpolitischen Regel und dem tatsächlichen Niveau des Leitzinses noch größer.

Diese möglichen höheren Niveaus für den Leitzins werden in den veröffentlichten Diskussionen der Fed weitgehend ignoriert. Stattdessen beharrt die Fed darauf, dass die derzeitige höhere Inflation ein vorübergehendes Nebenprodukt der Auswirkungen der Pandemie auf die Inflation im vergangenen Jahr ist. Diejenigen, die ihre derzeitige Haltung verteidigen, weisen darauf hin, dass die Marktzinsen für längerfristige Anleihen weiterhin sehr niedrig sind. Bei sicheren US-Bundesanleihen liegt die Rendite für fünfjährige Papiere bei nur 0,81% und für zehnjährige Papiere bei nur 1,35% – und damit deutlich unter den von der Taylor-Regel empfohlenen Zinssätzen, wenn man den Durchschnitt über diese Laufzeiten betrachtet. In Anbetracht dieser Faktoren raten viele Kommentatoren, sich keine Sorgen zu machen: Die Märkte sind wahrscheinlich rational, wenn sie niedrige Zinssätze vorhersagen.

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Das Problem bei dieser Argumentation ist, dass die niedrigen längerfristigen Zinssätze wahrscheinlich dadurch verursacht werden, dass die Fed selbst darauf besteht, die Zinssätze so weit das Auge sehen kann niedrig zu halten. Wie Josephine M. Smith und ich in einer Studie aus dem Jahr 2009 zeigen, gibt es eine „Term Structure of Policy Rules“, also eine „Laufzeitstruktur geldpolitischer Regeln“, zu berücksichtigen. Tatsächlich hängt die geldpolitische Regel für Anleihen mit längeren Laufzeiten von der geldpolitischen Regel für den viel kurzfristigeren Leitzins der US-Notenbank ab, wie sie von den Marktteilnehmern wahrgenommen wird. Wenn die Fed den Markt davon überzeugt, dass die Zinsen niedrig bleiben werden, wird die Laufzeitstruktur der Zinssätze niedrigere längerfristige Zinssätze implizieren.

Die heutige Situation ähnelt der von 2004, als der damalige Fed-Vorsitzende Alan Greenspan feststellte, dass die Renditen zehnjähriger US-Staatsanleihen offenbar keinen Einfluss auf die Entwicklung der Federal Funds Rate hatten. Er sprach von einem „conundrum“, einem Rätsel, weil der tatsächliche kurzfristige Zinssatz nicht zu einem so starken Anstieg der langfristigen Zinssätze führte, wie man aufgrund früherer Erfahrungen erwarten würde. Die geldpolitische Straffung wirkte sich nicht so stark auf die längerfristigen Zinssätze aus, wie dies in früheren Phasen der Straffung der Fall war.

In dieser Zeit wich die Federal Funds Rate erheblich von dem ab, was aufgrund der typischen Reaktion der Fed zu erwarten gewesen wäre, so wie es auch heute der Fall ist. Als der tatsächliche Leitzins erheblich von dem Niveau abwich, das die geldpolitischen Regeln nahelegten, schien die Reaktion der kurzfristigen Zinssätze auf die Inflation viel geringer zu sein, zumindest aus Sicht der Marktteilnehmer, die versuchten, die Politik der Fed einzuschätzen. Und diese Wahrnehmung eines geringeren Ansprechens der geldpolitischen Regel auf die Reaktion könnte die Marktteilnehmer dazu veranlasst haben, geringere längerfristige Zinsreaktionen auf die Inflation und damit niedrigere langfristige Zinssätze zu erwarten.

Heute scheint die Fed von geldpolitischen Regeln abzuweichen. Sie hat ihren eigenen Weg der Forward Guidance eingeschlagen, und der Markt stützt seine Schätzungen der künftigen Zinssätze auf die Erwartung, dass diese Abweichung fortgesetzt wird. Die Geschichte lehrt uns jedoch, dass das nicht ewig so weitergehen kann. Irgendwann wird die Fed zu einer geldpolitischen Regel zurückkehren müssen, und wenn sie das tut, wird sich das Rätsel auflösen. Je eher dies geschieht, desto reibungsloser wird der Aufschwung verlaufen. Es ist noch Zeit, sich anzupassen und zu einer geldpolitischen Regel zurückzukehren, aber die Zeit wird knapp.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow

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