cliffe7_ EDUARDO SOTERASAFP via Getty Images_drought eastern africa EDUARDO SOTERAS/AFP via Getty Images

Klimarisiken: Das dicke Ende kommt noch

LONDON: Die Wissenschaftler warnen seit langem, dass derKlimawandel das Wetter und die Lebensbedingungen weltweit negativ beeinflussen würde. Diese Warnungen entwickeln sich nun zur schmerzhaften Realität. Noch schlimmer ist, dass das Spektrum möglicher Entwicklungen sich als zunehmend „endlastig“ erwiesen hat: Extremwetter-Ereignisse wie Hitzewellen, schwere Stürme und Überflutungen sind wahrscheinlicher, als anhand der statistischen Normalverteilung anzunehmen.

Nichts davon lässt für die künftige politische Stabilität oder den wirtschaftlichen Wohlstand Gutes erwarten. Unsere beste Hoffnung ist, dass dieses „dicke Ende“ uns veranlasst, die nötigen Abhilfemaßnahmen zu ergreifen, bevor sich die Lage weiter zuspitzt. Aber wird es das?

Der Bevölkerung wird zunehmend bewusst, dass die globale Erwärmung zu stärkeren Wetterschwankungen führt. In diesem Jahr gab es Rekorde brechende Hitzewellen weltweit – nicht nur in Indien, wo die Temperaturen 49,2 °C erreichten, sondern auch an Orten wie Großbritannien (40,2 °C). Frankreich und China erleben die schlimmsten Dürren seit Beginn der Aufzeichnungen, und vier Jahre in Folge ohne Regenzeit haben in Ostafrika mehr als 50 Millionen Menschen dem Risiko „akuter Ernährungsunsicherheit“ ausgesetzt. Derweil wurden Madagaskar, Australien, die USA, Deutschland, Bangladesch und Südafrika von verheerenden Stürme und Überflutungen heimgesucht.

Diese Ereignisse haben jedes Jahr hunderttausende Todesfälle und enorme wirtschaftliche und finanzielle Schäden zur Folge, was die Wetterschwankungen zu einem zunehmend wichtigen Faktor bei der Risikoeinschätzung macht. Während Temperaturanstiege von 0,5 °C hier oder da kaum zu bemerken sind, können Dürren, Überflutungen und andere kurzfristige Wetterschwankungen tödliche Verheerungen anrichten.

Darüber hinaus können Extremwetterereignisse Veränderungen hervorrufen, die weit über die von ihnen hervorgerufenen unmittelbaren Erschütterungen und Schäden hinaus Bestand haben, insbesondere wenn sie Entwicklungen beschleunigen, die andernfalls womöglich viele Jahre gedauert hätten. Die Wissenschaftler sorgen sich zunehmend über sogenannte „Kipp-Punkte“ – z. B. das Abschmelzen polarer Eisschilde –, die uns über die Schwelle irreversibler Veränderungen tragen würden. Dies könnte zerstörerische Rückkopplungsschleifen zwischen miteinander verbundenen Klimarisiken hervorrufen, die sich alle auf die Realwirtschaft auswirken würden und Konkurse, überproportional die benachteiligten Gruppen betreffende Arbeitsplatzverluste und politische Turbulenzen hervorrufen würden.

Abgesehen von den Schäden für das physische Umfeld kann Extremwetter daher abrupte und zuweilen dauerhafte Veränderungen der gesellschaftlichen Einstellungen und der Ordnungspolitik auslösen. Wenn die Leute anfangen, ihre Häuser, Lebensgrundlagen oder sogar ihr Leben zu verlieren, muss die Politik reagieren.

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Überraschenderweise übersehen die Prognostiker, obwohl wir uns alle des Extremwetters akut bewusst sind, nach wie vor weithin dessen Rolle bei der Beschleunigung struktureller Veränderungen. Die etablierten Klimawissenschaftlicher und Ökonomen neigen dazu, sich auf die durch die globale Erwärmung hervorgerufenen längerfristigen Auswirkungen des Klimawandels zu konzentrieren, und legen dabei den Schwerpunkt auf Szenarien mit einem durchschnittlichen weltweiten Temperaturanstieg in der Spanne von lediglich 1,5–2 °C – den im Pariser Klima-Abkommen festgelegten Zielvorgaben. Und selbst in Szenarien mit höheren Temperaturen gehen sie davon aus, dass die Auswirkungen – beispielsweise auf den Meeresspiegel und die landwirtschaftliche Produktion – sich nur allmählich einstellen werden, was nahelegt, dass das letztliche böse Erwachen noch Jahrzehnte entfernt liegt.

Ein aktueller wissenschaftlicher Aufsatz mit dem Titel „Climate Endgame: Exploring Catastrophic Climate Change Scenarios“ (Klima-Endspiel: Untersuchung katastrophaler Klimawandel-Szenarien) zeigt, dass diese herkömmliche Szenarien-Analyse die langfristigen Risiken deutlich unterschätzt, weil sie es versäumt, den extremeren klimatischen Entwicklungen (den „dicken Enden“) die verdiente Aufmerksamkeit zu schenken. Der Statistiker Nassim Taleb hat im Kontext der Finanzmärkte darauf hingewiesen, dass die traditionellen Modelle sich schwertun, die Folgen sogenannter „Fat-Tail-Ereignisse“ zu erfassen, und dass ihre Prognosen einen gefährlichen blinden Fleck aufweisen.

Höhere Temperaturanstiege würden etwas hervorrufen, was die Verfasser als die „vier apokalyptischen Reiter“ des Klima-Endspiels bezeichnen: Hungersnot und Mangelernährung, Extremwetter, Konflikte und vektorübertragene Krankheiten. Man braucht nicht viel Fantasie, um zu erkennen, wie diese Vorboten der Apokalypse ein gesellschaftliches und politisches Chaos hervorrufen könnten, insbesondere wenn sie alle zusammen angaloppiert kommen – so wie das bei der heutigen globalen Ernährungskrise, einem neuen Krieg in Europa und der laufenden Pandemie bereits der Fall ist. Schlimmer noch: Die Erwähnung des zweiten apokalyptischen Reiters legt nahe, dass die unmittelbareren Risiken des Klimawandels noch immer unterschätzt werden. Schließlich treibt Extremwetter zugleich die anderen drei Reiter an und ist daher womöglich der wichtigste der vier.

Wetterschocks rufen Leid hervor, das die gesellschaftliche Aufmerksamkeit viel stärker in seinen Bann zieht als abstrakte (wenn auch nicht weniger berechtigte) Warnungen vor der langfristigen Katastrophe. Umfragen zeigen, dass die Unterstützung für Klimaschutzmaßnahmen bei Menschen, die selbst schon Extremwetter erlebt haben, größer ist. Obwohl der gegenwärtige Anstieg der Inflation zur Folge hat, dass die Leute gegenüber Maßnahmen, die ihre eigenen Finanzen in Mitleidenschaft ziehen könnten, weniger aufgeschlossen sind, lässt die wachsende Häufigkeit von Katastrophen die Minderheit, die dem Klimawandel oder der Klimapolitik insgesamt weiterhin skeptisch gegenübersteht, schrumpfen.

Insofern dürfte das dicke Ende bei der Wetterentwicklung – und nicht beim langfristigen Klimawandel – mit viel größerer Wahrscheinlichkeit zum Handeln innerhalb der kürzeren Zeithorizonte anregen, in denen Politik und Wirtschaft denken. Wir wollen hoffen, dass die dadurch bedingten Probleme, die nun immer häufiger und schmerzhafter spürbar werden, uns dazu anhalten werden, eine Politik aufrechtzuerhalten, die erforderlich ist, um die apokalyptischen Reiter des Klimawandels fernzuhalten.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/UGdsHmHde