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China muss eine Schulden-Deflationsspirale vermeiden

NEW YORK – Die chinesische Wirtschaft bleibt hinter ihrem Wachstumspotenzial zurück. Nicht nur Investitionen und Verbrauchernachfrage präsentieren sich schwächer als erhofft, das Land steht auch vor der Herausforderung aus einer Kombination von Deflation und Schulden. Während sich die Verbraucherpreisinflation dem negativen Bereich nähert, ist die Erzeugerpreisinflation bereits seit einem Jahr negativ. Gleichzeitig haben sowohl der private als auch der öffentliche Sektor massive Schulden angehäuft, die auf die höheren Ausgaben während der Pandemie und die allgemeine Reaktion auf die lockere Geldpolitik der vergangenen Jahre zurückzuführen sind.

Bei der Kombination aus Deflation und Schulden handelt es sich um eine toxische Verquickung. Da die Deflation den realen (inflationsbereinigten) Wert der bestehenden Schulden erhöht, wird für Unternehmen die Beschaffung zusätzlicher Finanzmittel schwieriger. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit von Insolvenzen - ein Trend, der in China bereits zu beobachten ist. Sobald sich die Kombination aus Schulden und Deflation verfestigt hat, kann ein Teufelskreis entstehen, in dem die geringere Nachfrage zu geringeren Investitionen, sinkender Produktion, niedrigeren Einkommen und somit zu einer noch weiter sinkenden Nachfrage führt.

Diese gefährliche Spirale hat zweierlei Auswirkungen auf die Politikgestaltung. Um zu verhindern, dass sich deflationäre Erwartungen verfestigen, ist ein Anstieg der Inflationsrate durch Ankurbelung der Gesamtnachfrage dringend erforderlich. Allerdings empfiehlt es sich, nicht ausschließlich auf verstärkte öffentliche oder private Kreditaufnahme zu setzen, sondern auf eine offensive geldpolitische Lockerung - unter anderem durch die Monetarisierung von Schulden (also durch Kauf und Besitz von Staatsanleihen durch die Zentralbank).

Freilich haben die chinesischen Behörden eine Reihe von Maßnahmen zur Belebung der Wirtschaft ergriffen, darunter die Senkung der Hypothekarzinsen, die Aufhebung von Beschränkungen für Immobilienunternehmen hinsichtlich des Zugangs zu Finanzmitteln und die Umsetzung von Maßnahmen zur Stärkung der inländischen Aktienkurse (in der Hoffnung, dass dadurch die Verbraucherausgaben steigen). Bislang haben diese Maßnahmen jedoch nicht den gewünschten Erfolg gebracht.

Erstaunlicherweise hat die People's Bank of China (PBOC) keine geldpolitischen Maßnahmen in Form massiver Liquiditätsspritzen ergriffen. Diese Zurückhaltung ist offenbar auf vier Überlegungen zurückzuführen: die Angst, damit eine hohe Inflation auszulösen; die Einschätzung, damit den Spielraum für weitere geldpolitische Lockerungen zu begrenzen; die Überzeugung, dass geldpolitische Anreize nur begrenzte Wirkung haben werden; und die Sorge vor einer weiteren Abwertung des Renminbi gegenüber dem US-Dollar und anderen wichtigen Währungen.

Angesichts des aktuellen Zustands der chinesischen Wirtschaft sind diese Bedenken jedoch völlig unangebracht. China sollte sich keine Sorgen um die Inflation machen, da das Land bereits mit dem gegenteiligen Problem zu kämpfen hat – nämlich einem Rückgang der Preise und der Nominallöhne in vielen Sektoren. Erwarten Verbraucher und Unternehmen in Zukunft sinkende Preise, werden Käufe aufgeschoben, wodurch es wiederum zu einer Dämpfung der Nachfrage kommt. Vorrangig muss es darum gehen, der Schulden-Deflationsspirale vorzubeugen.

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Ebenso irren sich diejenigen, die der Ansicht sind, der Spielraum für eine geldpolitische Lockerung sei durch die bereits niedrigen Zinssätze begrenzt. Wie die chinesischen Finanzbehörden mittlerweile eingeräumt haben, können sie die vorgeschriebenen Mindestreservesätze für Banken weiter senken, die derzeit bei 10,75 Prozent im Falle großer staatlicher Geschäftsbanken und bei 6 Prozent für die anderen Banken liegen. Auch wenn der vorgeschriebene Satz für chinesische Banken, die sich nicht in Staatsbesitz befinden, ab dem 15. September auf 4 Prozent sinken wird, ist das im Vergleich zu den Reservesätzen von 0 Prozent in den USA und 0,8 Prozent in Japan immer noch hoch.

Darüber hinaus könnte die PBOC - ebenso wie die Zentralbanken der einkommensstarken Länder nach der Finanzkrise von 2008 - immer noch auf quantitative Lockerung zurückgreifen, indem sie in großem Stil Staatsanleihen aufkauft und damit den Geschäftsbanken mehr Liquidität für die Kreditvergabe verschafft. Besteht das Ziel in einer höheren Inflation – wie in China derzeit der Fall – gibt es keine feste Obergrenze für zusätzliche Anreize, die der Wirtschaft über diesen Kanal zugute kommen.

Angesichts der Tatsache, dass die Wirtschaftsleistung auch nach der vorangegangenen Senkung des Leitzinses von 3,65 auf 3,45 Prozent schwach blieb, kommen vielleicht manch einem die Zweifel, ob mit geldpolitischer Lockerung die Gesamtnachfrage angekurbelt werden kann. Allerdings ist ein unzureichender Anstieg der Gesamtnachfrage im Gefolge einer verhaltenen geldpolitischen Maßnahme kein Beweis dafür, dass eine offensivere geldpolitische Lockerung scheitern würde.  

China braucht einen Ansatz nach dem Motto „Koste was es wolle”, wie ihn die Europäische Zentralbank vor einem Jahrzehnt verfolgte, als auch sie vor einer Schulden-Deflationsspirale stand. Die PBOC sollte öffentlich eine Strategie verkünden, im Rahmen derer sie einen großen Teil der Staatsschulden monetarisiert und Anreize für mehr Private-Equity-Investitionen schafft.

Um einen umfassenden und koordinierten Anstieg der Nominallöhne herbeizuführen, sollte die Politik einen auf drei Säulen beruhenden Ansatz in Erwägung ziehen, der eine Senkung der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung im Gegenzug für Lohnerhöhungen ebenso vorsieht wie einen Fiskaltransfer von Finanzministerium zur Sozialversicherung, der mit langfristigen Staatsanleihen finanziert wird, um die entgangenen Firmenbeiträge zu ersetzen. Der Fiskaltransfer ist von der PBOC (durch Kauf der Staatsanleihen) zu monetisieren. Diese Maßnahmen können in Zukunft bei Bedarf rückgängig gemacht werden, wenn es eine Inflation zu bekämpfen gilt. Vorerst allerdings ist die Bekämpfung von Deflation und Verschuldung viel wichtiger.

Schließlich rufen Vorschläge für eine offensive geldpolitische Lockerung tendenziell Bedenken hinsichtlich einer Abwertung der Wechselkurse hervor. Die chinesische Währung hat in den letzten 12 Monaten aufgrund asymmetrischer Zinsänderungen in den USA und China etwa 5 Prozent ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren. Nun besteht die Befürchtung, dass eine zusätzliche Abwertung des Renminbi die Erwartungen hinsichtlich weiterer Abwertungen verstärken und eine Kapitalflucht auslösen könnte – dieser Umstand hat wohl eine gewisse Rolle dabei gespielt, dass sich die Lust der PBOC nach aggressiver geldpolitischer Lockerung in Grenzen hielt. 

Wenn ein schwächerer Renminbi der Preis ist, den es für die Rettung der Wirtschaft vor einer sich verfestigenden Deflation zu zahlen gilt, dann lohnt es sich, das auch zu tun – denn diese Vorgehensweise könnte auch als sinnvoller Anpassungsmechanismus dienen, der die Auslandsnachfrage nach chinesischen Produkten ankurbelt. Anstatt eine Steuerung des Wechselkurses zu versuchen -  die die Erwartung einer Abwertung künstlich rechtfertigen würde - sollten die chinesischen Behörden solche Anpassungen den Marktkräften überlassen. Schließlich würde eine ausreichend deutliche einmalige Abwertung wenig Raum für weitere Erwartungen hinsichtlich einer Abwertung lassen.

Für China gilt es dringend, verfestigte deflationäre Erwartungen zu vermeiden, wie sie in Japan nach den 1980er Jahren aufgetreten sind. Außerdem muss China unverzüglich das Vertrauen der Unternehmen und Haushalte wiederherstellen, und das ist ohne eine Steigerung der Gesamtnachfrage unmöglich. Vieles spricht für sofortige, aggressive geldpolitische Impulse und eine öffentliche Zusicherung, die Schulden-Deflationsspirale zu stoppen.

Sobald Chinas Wachstum auf den Pfad seines Wachstumspotenzials zurückkehrt, kann die Geldpolitik normalisiert werden und der Renminbi wird auf natürliche Weise wieder aufwerten.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

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