children bonded labor india PRAKASH SINGH/AFP/Getty Images

Den Kreislauf der Schuldknechtschaft in Indien durchbrechen

NEU DELHI – Meine Kindheit kam erst spät. Als Sohn einer verarmten Familie habe ich in einem Steinbruch in Rajasthan gearbeitet. Ich konnte Felsbrocken knacken, bevor ich meinen Namen schreiben konnte. Meine Eltern waren Schuldknechte, und sobald ich einen Hammer halten konnte, galt dies auch für mich. Wir verdienten wenig und konnten uns kaum ernähren. Meine frühesten Erinnerungen waren, dass ich der Sklave anderer Menschen war: Mein Atem gehörte mir, aber mein Körper und Geist nicht.

Dies war die Tragödie meiner Familie – und Generationen unserer Vorfahren. Auf wundersame Weise konnte ich mich daraus befreien. Die meisten indischen Schuldknechte haben dieses Glück nicht.

Jede Art von Sklaverei ist erniedrigend, aber die Schuldknechtschaft von Kindern – die dazu gezwungen sind, Schulden ihrer Familie abzuarbeiten – zählt zu den grausamsten Formen von Missbrauch. Der Teufelskreis geht wie folgt: Menschen, die Geld brauchen, um ihre hungrigen Familien zu ernähren, nehmen Kredite zu übermäßig hohen Zinsen auf. Wenn sie dann zahlungsunfähig sind, haben sie keine Sicherheit zu bieten – außer ihre Körper und diejenigen ihrer Familienmitglieder.

Sobald die Schuldner in der Falle sitzen, müssen sie alle möglichen Misshandlungen über sich ergehen lassen. Die Arbeitgeber verhalten sich wie Mafiabosse, und ihre Schläger sind für die Schuldknechte eine ständige Bedrohung. Die meisten dieser Schulden können nie zurückgezahlt werden. Allerdings sterben sie auch nicht mit den Schuldnern, sondern gehen von einer Generation auf die nächste über. Die meisten derjenigen, die unter solchen Bedingungen arbeiten, wagen nicht sich vorzustellen, dass sie jemals wieder ein normales Leben führen könnten.

Nicht nur in Steinbrüchen, sondern auch in Fabriken für Kleidung, Schuhe, Schmuck oder Sportartikel werden Schuldknechte unter unsäglichen Bedingungen ausgebeutet – mit kaum Sonnenlicht oder frischer Luft. Unfälle sind an der Tagesordnung. Ich habe von jungen Arbeitern gehört, die sich an gefährlichen Maschinen verletzt haben. Die gierigen Eigentümer haben ihnen dann eine Behandlung verweigert, um die Produktion nicht zu verlangsamen. Die grundlegende Versorgung von Schuldknechten ist minimal. Sie sind kaum ausgebildet, und ihre Kinder enden häufig als Krüppel, da sie oft unterernährt sind und gezwungen werden, lange Zeit in einer bestimmten Position zu sitzen.

Weltweit ist der Menschenhandel die drittgrößte Quelle von „Schwarzgeld“ – undurchsichtigen Gewinnen aus Steuerhinterziehung, Korruption und Verbrechen. Die Internationale Arbeitsorganisation schätzt, dass allein durch Zwangsarbeit jedes Jahr etwa 150 Milliarden Dollar an illegalen Einkünften erwirtschaftet werden.

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Ein großer Teil dieses Geldes stammt aus Indien, wo in jeder Stunde durchschnittlich acht Kinder vermisst werden – junge Körper, die billiger sind als Vieh. Sind diese verschleppten Kinder erst einmal in der Gewalt krimineller Banden, werden sie gezwungen, bis zu sechzehn Stunden am Tag zu arbeiten. Dabei werden sie oft mental, körperlich und sexuell missbraucht. Manche Mädchen werden sogar zur Prostitution gezwungen oder in Indiens größten Städten als Hausmädchen verkauft. Diese Kinder werden nicht nur ihrer Freiheit beraubt, sondern auch ihrer Kindheit.

Ich gehöre zu den glücklicheren von ihnen. Im Mai 2001, als ich sieben Jahre alt war, wurde der Steinbruch in Jaipur, wo ich versklavt war, von Aktivisten befreit, die sich gegen Kinderarbeit engagieren. Sie arbeiteten mit Kailash Satyarthi zusammen, der 2014 den Friedensnobelpreis bekam. Satyarthi bot mir einen Platz in Bal Ashram an, einem Rehabilitierungs- und Ausbildungszentrum für ehemalige Kinderarbeiter von Bachpan Bachao Andolan, der von ihm gegründeten Organisation. Nur wenig später konnte ich eine formale Ausbildung beginnen, und letztes Jahr verließ ich das Janhit-College mit einem Jura-Diplom.

Satyarthis Vision ist, dass die Geburt eines Kindes niemals automatisch zu einer lebenslangen Knechtschaft führen darf. Sein Engagement hat es Tausenden von Kindern wie mir ermöglicht, etwas zu tun, was ich einst für unmöglich hielt: zu träumen. Kinder sind die Grundlage einer friedlichen und wohlhabenden Zukunft. Ein starkes, fähiges und lebendiges Indien können wir nur aufbauen, wenn wir garantieren, dass alle Kinder frei, gut ausgebildet und gesund sind.

Heute bin ich all dies und noch mehr. Aber viele Kinder im ganzen Land sind immer noch in Sklaverei gefangen. Wir müssen auch ihnen helfen zu entkommen. Haben wir dabei Erfolg, wird die indische Schuldknechtschaft – ein Phänomen, das seit Jahrhunderten Millionen von Leben zerstört hat – mit meiner Generation endlich ihr Ende finden.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

https://prosyn.org/bszHhFyde