mazzucato25_Colin McPhersonCorbis via Getty Images_vauxhall factory Colin McPherson/Corbis via Getty Images

Schlechterer Wiederaufbau

LONDON – Der Begriff „Industriestrategie“ hat im Vereinigten Königreich eine turbulente Geschichte. Nachdem sich die Labour-Regierungen der 1960er und 1970er Jahre die Idee begeistert zu eigen gemacht hatten, wurde sie von Margaret Thatcher und den auf sie folgenden Premierministern mit der (fragwürdigen) Begründung abgelehnt, dass der Staat per se verschwenderisch und ineffizient sei.

Obwohl die Idee der Industriestrategie 2009 von der Labour Party und dann erneut während David Camerons Koalitionsregierung aus Konservativen und Liberaldemokraten teilweise rehabilitiert wurde, war erst Theresa Mays konservatives Kabinett erforderlich, um sie komplett zurückzubringen. Im Jahr 2016 richtete May ein Ministerium für Wirtschaft, Energie und industrielle Strategie ein, das dann die seit Jahrzehnten erste britische Industriestrategie veröffentlichte.

Man muss es der Strategie zugutehalten, dass sie mehr Geld für die Naturwissenschaften, die Qualifizierung und andere produktivitätssteigernde Investitionen forderte und dabei einen Schwerpunkt auf Sektoren legte, die für eine künftige Wettbewerbsfähigkeit zentral sind (darunter die Biowissenschaften, die Kreativbranchen, Bau und Luftfahrt). Erstmals richtete sich eine derartige Strategie zudem ausdrücklich auf breitere gesellschaftliche „große Herausforderungen“, bezüglich derer die UCL Commission for Mission-Oriented Innovation and Industrial Strategy (MOIIS) – deren Co-Vorsitzende eine von uns (Mazzucato) war – die Regierung in Umsetzungsfragen beriet.

Statt eine Liste von Sektoren zu erstellen, die unterstützt werden sollten, betonten wir, dass eine Industriestrategie allgemeinere Probleme auswählen sollte, die es zu bewältigen gilt. Danach können sich alle relevanten Sektoren organisch an der Lösung beteiligen. Auf diese Weise formt der Staat die Märkte proaktiv, statt sie lediglich zu reparieren, wenn etwas kaputtgeht.

Leider war die Rückkehr des Vereinigten Königreichs zur Industriestrategie nur von kurzer Dauer. In diesem Monat hat das britische Finanzministerium die Strategie der Regierung May durch ein neues Programm mit dem Titel Build Back Better: Our Plan for Growth (Besserer Wiederaufbau: Unser Wachstumsplan) ersetzt. Es argumentiert darin, dass sich „seit 2017 viel verändert hat“. Damit verweist die Regierung auf das britische Ziel der CO2-Neutralität bis 2050 und die Pläne, die Regionen auf „ein höheres Niveau zu bringen“. In Wahrheit ist keins dieser Ziele mit der vorherigen Industriestrategie unvereinbar, zu deren vier „großen Herausforderungen“ unter anderem ein „sauberes Wachstum“ gehörte und die dem „Ort“ besondere Aufmerksamkeit widmete.

Die Strategie des Jahres 2017 ist zeitgerecht wie eh und je; daher ist anzunehmen, dass sie schlicht deshalb verworfen wurde, weil sie nicht von der derzeitigen Regierung selbst stammt. Die Kosten einer derartigen Kleinlichkeit werden sich bald erweisen. Das Vereinigte Königreich braucht dringend einen dynamischen, unternehmerische Missionen definierenden Staat, um der dreifachen Krise aus COVID-19, wachsender Ungleichheit und Klimawandel zu begegnen.

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Der Erfolg des Vereinigten Königreichs bei der Entwicklung eines Impfstoffs ist ein Beispiel dafür, was sich mit einer Industriestrategie erreichen lässt. Der Oxford-AstraZeneca- Impfstoff ist nicht vom Himmel gefallen. Er ist das Ergebnis geduldiger, viele Jahre (wenn nicht Jahrzehnte) langer Investitionen in Grundlagenforschung in einer ganzen Reihe von Bereichen. Als dann die Stunde der Wahrheit schlug, entwickelte sich die laufende staatliche Förderung wissenschaftlicher und technischer Kompetenz zu einer Startrampe für die schnelle Entwicklung eines Impfstoffs. Die Pandemie stellte eine klare, dringende Mission dar, die ihrerseits die Koordination des öffentlichen Sektors und Investitionen des privaten Sektors beflügelte.

Der Regierung von Premierminister Boris Johnson ist eindeutig wohl dabei, den Staat eine größere Rolle in der Wirtschaft spielen zu lassen. Doch das allein wird keine besseren Ergebnisse hervorbringen. Ohne ein in sich schlüssiges, transparentes und von öffentlicher Rechenschaftspflicht geprägtes Rahmenwerk zur Lenkung der Regierungspolitik läuft das Vereinigte Königreich Gefahr, weiter in die Vetternwirtschaft abzugleiten oder vergangene Fehler zu wiederholen.

Erfolgreiche Industriestrategien erfordern zudem eine geduldige (langfristige) Finanzierung, an der es im Vereinigten Königreich verzweifelt fehlt. Frühere Versuche, dort öffentliche Investitionsbanken zu gründen, hatten nur begrenzten Erfolg. Die Green Investment Bank wurde 2017 törichterweise privatisiert, und die British Business Bank erhielt nie das Mandat oder die finanzielle Feuerkraft, die sie braucht. Es bleibt abzuwarten, ob es mit der neuen staatlichen UK Infrastructure Bank anders laufen wird, doch frühe Signale sind wenig vielversprechend.

Ein noch schädlicherer Akt der Selbstsabotage ist die Entscheidung der Regierung Johnson, den Rat für Industriestrategie (ISC) abzuschaffen – ein selbst von Wirtschaftsführern weithin kritisierter Schritt. Der vom früheren Chefökonom der Bank von England, Andy Haldane, geleitete ISC brachte wichtige Interessenvertreter zusammen, um sicherzustellen, dass die Industriestrategie des Jahres 2017 ihre Ziele erreichte. In ihrem 2020 erschienenen ersten Jahresbericht betonte der ISC, dass erfolgreiche Industriestrategien „normalerweise einen längeren Zeitraum erfordern, bevor sie deutliche, bleibende Auswirkungen auf die Volkswirtschaft haben“. Dies ist der Grund, warum wir bei der MOIIS empfahlen, dass der ISC eine dauerhafte, gesetzlich verankerte Rolle erhalten solle, um sicherzustellen, dass er die Regierung, die ihn ins Leben gerufen hatte, überleben würde.

Jede Wirtschaftsstrategie – unabhängig davon, ob man sie als „Industriestrategie“ bezeichnet oder nicht – bedarf eines institutionellen Rahmens, innerhalb dessen die Regierung die Umsetzung über die verschiedenen Ministerien hinweg beaufsichtigt. Und keine Regierung kann ein derart komplexes Ziel wie CO2-Neutralität erreichen ohne Mechanismen, um die Beteiligung von Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zu fördern und zu koordinieren. Ein Stopp-Start-Ansatz – bei dem das Flaggschiff der Strategie vor seinem dritten Geburtstag sinkt – untergräbt das Vertrauen des privaten Sektors in den Staat auf fatale Weise.

Der neue Plan der Regierung Johnson scheint eine Neuformulierung der in Mays Industriestrategie skizzierten Herausforderungen zu sein, doch mit einem weniger gründlichen Rahmen für politische Reaktionen. Verschwunden sind die „großen Herausforderungen“ und die Maßnahmen in Bezug auf einzelne Sektoren; alles, was wir bekommen, sind dieselben alten Grafiken, die eine stagnierende Produktivität und eingefrorene reale (inflationsbereinigte) Medianeinkommen zeigen.

Während der Plan eine gewisse Klarheit über die Vision der Regierung schafft, ein „höheres Niveau“ zu erreichen, bleibt die Frage nach dem Wie ungeklärt. Der Plan erkennt an, dass das Vereinigte Königreich „geringere Unternehmensinvestitionen [als andere hochentwickelte Volkswirtschaften] aufweist“, enthält aber kaum Lösungsvorschläge.

Eines jedoch sieht der Wachstumsplan richtig: „Wachstum ist nicht gleich Wachstum.“ Es geht beim Wachstum auch um die Richtung der Expansion, nicht bloß um das Tempo. Im Falle des Vereinigten Königreichs geht das Wachstum nach wie vor vom Konsum aus. Zugleich erreichen die privaten Schulden neue Höhen, während die Investitionen des öffentlichen und des privaten Sektors auf eines der niedrigsten Niveaus in der entwickelten Welt sinken. Um irgendwelche Vorteile erwarten zu lassen, muss der Plan der Regierung die Wirtschaft in eine breitere Schichten einbeziehende, nachhaltigere Richtung lenken.

Die zentrale Lehre aus der COVID-19-Pandemie ist, dass Regierung und Industrie zusammenarbeiten müssen, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen. Ein Staat, der den Markt einfach nur machen lässt, wird nie die politische Ökonomie hervorbringen, wie wir brauchen. Sofern die Regierung Johnson nicht mehr als diesen Wachstumsplan anzubieten hat, werden die wirtschaftlichen Probleme des Vereinigten Königreichs ungelöst bleiben.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

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