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Warum die meisten Unternehmen dabei scheitern, aus neuen Technologien Kapital zu schlagen

BOSTON: Von künstlicher Intelligenz und Elektrofahrzeugen bis hin zu Blockchain und Verbundwerkstoffen: Wir leben in einem goldenen Zeitalter der Innovation. Um den Wert dieser Technologien zu erschließen, müssen sich jedoch auch die Unternehmen selbst verändern, und laut einer Studie von McKinsey & Company scheitern über 70 % dieser Bemühungen.

Es liegt auf der Hand, dass Unternehmen, die eine neue Technologie einführen, die richtigen Kennzahlen (KPIs) brauchen und eine interne Abstimmung ihrer Abläufe vornehmen müssen, um sicherzustellen, dass sie den gewünschten Nutzen daraus ziehen. Es gibt allerdings noch einen wichtigeren und oft vernachlässigten Faktor, der darüber entscheidet, ob sie dauerhaft profitieren oder lediglich teuren Technologietrends hinterherlaufen.

Zwar stellen sowohl die Verbesserung alter als auch die Schaffung neuer Anwendungsfälle Innovationen dar, doch nur Letztere schaffen einen dauerhaften wirtschaftlichen und sozialen Wert.

Dieses Spannungsverhältnis zeigt sich derzeit bei der generativen KI. Wie Goldman Sachs in diesem Sommer feststellte, haben Unternehmen eine Billion Dollar in die KI investiert, ohne dass sie bisher viel vorzuweisen haben. Um in größtmöglichem Umfang von Investitionen in Technologien zu profitieren, sollten Unternehmenschefs wie Architekten denken, die mit einem leeren Blatt beginnen.

Als vor einer Generation Digitalkameras aufkamen, brachten die Verbraucher ihre Speicherkarten noch in die Geschäfte, um ihre Dateien auszudrucken. Heute tauschen wir Bilder sofort über unsere Telefone und sozialen Netzwerke aus.

Diese Entwicklung spiegelt ein allgemeines Muster bei der Einführung von Technologien wider. Wie der Unternehmer Chris Dixon in Read Write Own: Building the Next Era of the Internet feststellt, nutzen wir neue Technologien anfangs lediglich, um alte Verhaltensweisen schneller, einfacher, in besserer Qualität oder zu geringeren Kosten fortzusetzen. Erst später setzen wir sie auf neue Weise ein, um bahnbrechende, dauerhafte Ergebnisse zu erzielen.

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Der Sprung vom „skeuomorphen“ Denken (bei dem digitale Schnittstellen, z. B. der „Desktop“ auf Ihrem Computer, so gestaltet werden, dass sie traditionelle physische Schnittstellen nachahmen) zum nativen Denken braucht Zeit. Der Weg von den ersten Digitalkameras bis zum Aufkommen von Instagram beispielsweise dauerte 15-20 Jahre. Unternehmen, die Technologie auf skeuomorphe Weise einsetzen, können ihre Gewinnspannen verbessern, z. B. durch die Verwendung von QR-Codes anstelle von gedruckten Speisekarten in Restaurants. Aber diejenigen, die neue Anwendungsmöglichkeiten finden, können völlig neue Märkte schaffen, wie GrubHub das mit seiner Plattform für Essenslieferungen tat.

Wie können mehr Unternehmen den Sprung zu einer nativen, einen größeren Nutzen bringenden Mentalität schaffen? Eine Möglichkeit ist, nach Reibungen zu suchen. Wer davon ausgeht, dass Reibungspunkte in bestehenden Geschäftsmodellen feststehende Tatsachen sind, wird sich nur schwer von alten Denkweisen lösen können. Wer jedoch die Reibungspunkte identifiziert und sich auf sie konzentriert, wird oft feststellen, dass sie sich ausräumen lassen.

Die üblichen geschäftlichen Gebote „schneller, einfacher, billiger“ halten uns in der Regel im skeuomorphen Modus gefangen. Sie sind so tief verwurzelt, dass wir nicht hinterfragen, ob das Produkt oder der Prozess, die wir verbessern wollen, überhaupt erhalten bleiben sollten.

Amazons Ansatz zur Innovation bei Whole Foods ist ein Beispiel für diese Dynamik. In einigen Filialen hat das Unternehmen den Bezahlvorgang an der Kasse beschleunigt, indem es den Kunden erlaubt, ihre Handflächen zu scannen statt eine Kreditkarte einzuschieben. In anderen Filialen wurde die Kasse durch „Dash Carts“, die die Waren bereits während des Einkaufs erfassen, ganz abgeschafft.

Es besteht ein großer Unterschied zwischen der Beschleunigung eines Arbeitsschritts und seiner Abschaffung. „Wie können wir den Bezahlvorgang an der Kasse verbessern?“ ist eine skeuomorphe Frage. „Warum brauchen wir überhaupt noch eine Kasse?“ ist eine native Frage.

Reibungspunkte sind die sprichwörtlichen Elefanten im Wohnzimmer. In unserer eigenen Branche, der Finanztechnologie, fühlen sich einige von ihnen wie feste Bestandteile des Marktes an. Wann haben Sie das letzte Mal drei Tage gewartet und 6 Euro bezahlt, um eine „grenzüberschreitende E-Mail“ zu versenden? Allein schon die Vorstellung ist lächerlich, denn wir alle übermitteln Nachrichten sofort, weltweit und kostenlos.

Das Versenden von Geld über Grenzen hinweg kann und sollte genauso nahtlos vonstattengehen, da das Internet-Finanzsystem inzwischen gut etabliert ist. Doch ein Großteil der Branche ist noch immer einem skeuomorphen Denken verhaftet, das Gebühren, Verzögerungen und „Walled Gardens“ als unveränderliche Tatsachen ansieht. Weltweit liegt die durchschnittliche Gebühr für internationale Überweisungen bei 6 %. Das ist so, als würden wir Fotos immer noch im Laden ausdrucken.

Wenn es um die Anwendung von Technologien geht, sollten Nutzer und Funktionen über Materialien und Eigenschaften triumphieren. Jede echte Innovation hat eine einzigartige Stärke. Um nativ zu denken, müssen wir sie erkennen und nutzen. Die einzigartige Stärke der digitalen Fotografie war nicht die hohe Auflösung, sondern die sofortige Verbreitung. Die Stärke der KI besteht in der Mustererkennung, nicht in der Übermittlung von Wahrheiten.

Der Einsatz von KI zur Verbesserung einer Websuche ist skeuomorph. Der Einsatz von KI zum Scannen medizinischer Bilder auf Anomalien, die Menschen möglicherweise übersehen, ist eine bessere Anwendung. Darüber hinaus kann KI Reibungspunkte in der Gesundheitsversorgung verringern oder beseitigen. Durch die Überwachung von Veränderungen unserer grundlegenden Gesundheitswerte könnten KI-gestützte Wearables uns beispielsweise helfen, eine Krankheit zu erkennen, bevor sie schwerwiegend wird. Das US-Verteidigungsministerium hat bereits ein solches Programm getestet, um COVID-19 zweieinhalb Tage vor dem Auftreten von Symptomen zu erkennen.

Alle Unternehmenschefs streben nach mehr Effizienz. Wenn es jedoch darum geht, den größtmöglichen Nutzen aus einer Technologie zu ziehen, reicht es nicht, bestehende Produkte und Verfahren zu verbessern. Der Erfolg liegt im Hinterfragen langjähriger Annahmen über die Art und Weise, wie Dinge getan werden, und in der Entwicklung völlig neuer Anwendungsfälle.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

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