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Transatlantischer Konfliktstoff beim CO2-Preis

SOFIA/MAILAND: Ökonomen argumentieren seit langem, dass die zur Begrenzung des Klimawandels erforderliche Senkung der globalen Treibhausgas-Emissionen sich durch Regulierung allein nicht erreichen lässt; auch ein Preis auf Kohlenstoffemissionen sei unverzichtbar. Weltweit wurden bereits Dutzende derartiger Preissetzungsmechanismen eingeführt, die meisten davon auf Steuerbasis. Doch was die Wirksamkeit angeht, steckt der Teufel im Detail.

Der im letzten Jahr verabschiedete US Inflation Reduction Act hat gezeigt, wie kompliziert die CO2-Bepreisung sein kann. Der IRA enthielt eine wenig beachtete Subvention von 85 Dollar pro von industriellen Prozessen abgeschiedener Tonne CO2, die für jedes neue Werk zwölf Jahre lang gezahlt wird. Ob diese Bestimmung zu einer deutlichen Minderung der Emissionen führen wird, lässt sich unmöglich vorhersagen. Zu erwarten ist jedoch, dass sie die technologische Machbarkeit der Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (CCS) auf die Probe stellen wird.

Gegenwärtig existieren weltweit nur einige wenige CCS-Anlagen, und diese scheiden nur kleine Mengen CO2 ab. Während die potenziellen Kosten der CCS stark variieren, liegen sie laut vielen Schätzungen bei unter 85 Dollar pro Tonne. Die Garantie einer großzügigen Subvention, auf die Investoren langfristig zählen können, könnte dem Sektor daher einen deutlichen Schub verleihen.

Doch ob sich die CCS-Subvention als erfolgreich erweist oder nicht, ist zweitrangig. Wichtiger ist, dass sie faktisch einen CO2-Preis für die US-Industrie festlegt. Würde zum Beispiel ein Stahlwerk die CCS einführen, bekäme es pro nicht mehr freigesetzter Tonne CO2 85 Dollar.

Die Europäische Union stützt sich auf ein deutlich anderes CO2-Preismodell. Das europäische Emissionshandelssystem – der weltweit erste und größte Kohlenstoffmarkt – nutzt einen Mengensteuerungsansatz. Das System schafft faktisch einen Kohlenstoffpreis, indem es die Unternehmen zwingt, eine ausreichende Anzahl von Zertifikaten zu kaufen, um ihre CO2-Emissionen abzudecken. Eine bestimmte Menge an Zertifikaten wird kostenlos ausgegeben; zusätzliche Zertifikate müssen die Unternehmen dann am Markt zukaufen.

Man stelle sich zwei identische Stahlwerke vor: eins in den USA und das andere in der EU. Beide hätten im Prinzip denselben marginalen Anreiz zur Senkung ihrer Emissionen. Das europäische Stahlwerk, das seine Emissionen senkt, bräuchte weniger Zertifikate und könnte nicht benötigte Zertifikate zum Marktpreis an andere weiterverkaufen, die mehr CO2 freisetzen. Dieser Marktpreis liegt derzeit bei 80 Euro (86 Dollar) pro Tonne und ist damit fast genauso hoch wie der, der durch die amerikanische CCS-Subvention geschaffen wurde.

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Erhielte das EU-Werk seine Zertifikate kostenlos, wäre die finanzielle Situation auf beiden Seiten des Atlantiks genau gleich. Das zusätzliche Geld käme bloß aus verschiedenen Quellen: von der US-Regierung (für das US-Werk) oder von den Käufern der überschüssigen Zertifikate (für das EU-Werk).

Das heißt freilich nicht, dass wir damit transatlantische Harmonie bei den CO2-Preisen geschaffen hätten – was daran liegt, wie der EU-Ansatz in der Realität funktioniert. Ein zentrales Merkmal des Emissionshandelssystems besteht darin, dass es Stromsektor und Industrie völlig unterschiedlich behandelt. Kraftwerke erhalten kaum kostenlose Zertifikate und müssen den Rest am Markt zukaufen. Die Industrie dagegen erhält alle benötigten Zertifikate kostenlos. Ein Stahlwerk, dass seine Produktion herunterfährt und dadurch seine CO2-Emissionen verringert, verliert seine kostenlosen Zertifikate, was den Anreiz zur Emissionssenkung zunichtemacht. Es sollte nicht überraschen, dass die Industrie-Emissionen in Europa seit Einführung des Emissionshandelssystems vor fast zwei Jahrzehnten kaum gesunken sind.

Während die US-Industrie also jetzt eine Art Kohlenstoffpreis hat, gilt dies für die Industrie in der EU weiterhin nicht. Und das wird sich so schnell auch nicht ändern: Die EU plant, der Industrie den größten Teil der Zertifikate bis 2030 weiterhin kostenlos zur Verfügung zu stellen. Trotzdem wirbt Europa weiterhin lautstark für sein Emissionshandelssystem mit seinem vorgegaukelten Kohlenstoffpreis. Das liegt auch daran, dass es eine politisch heikle Situation zu vermeiden sucht: Würde die EU ihre kostenlosen Emissionszertifikate nicht an Bedingungen knüpfen, würden die Unternehmen ihre Fabriken schließen und ihre Zertifikate mit dickem Gewinn verkaufen.

Die EU weiß zudem, dass die Reduzierung der kohlenstoffintensiven lokalen Produktion allein dem Klima nicht viel nutzen würde: Dieselben Waren würden dann von außerhalb des Blocks importiert. Um diese sogenannte Emissionsverlagerung zu verhindern, plant die EU nun, ein kontroverses „Europäisches CO₂-Grenzausgleichssystem“ (CBAM) einzuführen, bei dem Importeure Emissionszertifikate in Höhe des Kohlenstoffgehalts der importierten Produkte zahlen sollen. Der aktuelle Plan sieht vor, die kostenlosen Zertifikate für die Industrie im Rahmen der allmählichen CBAM-Einführung – zwischen 2026 und 2034 – schrittweise abzuschaffen.

Da das CBAM nur für Importe aus Ländern gelten soll, die keinen Kohlenstoffpreis haben, und die USA jetzt faktisch einen Kohlenstoffpreis haben, müssten US-Produkte befreit sein. Das würde potenziell erhebliche transatlantische Spannungen vermeiden. Doch tritt dann ein weiteres Problem auf: Erhielte die EU-Industrie keine kostenlosen Zertifikate mehr, hätten die Produzenten kohlenstoffintensiver Produkte einen Anreiz, ihre Produktion in die USA zu verlagern, wo der Staat die Dekarbonierungskosten übernimmt. Die EU steht also vor der politisch schwierigen Entscheidung, entweder die kostenlosen Zertifikate beizubehalten oder das CBAM trotz allem auf die USA anzuwenden.

Das CBAM lässt sich gemäß den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) rechtfertigen, da sein Zweck nicht im Schutz der heimischen Industrie besteht, sondern – durch Ausweitung des Kohlenstoffpreises der EU auf Importe – in der Förderung eines globalen Gutes. Doch würde die Anwendung des CBAM auch auf Länder wie die USA bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung kostenloser Zertifikate für die EU-Industrie eindeutig die europäische Industrie schützen. Das wäre nach WTO-Regeln sehr schwer zu rechtfertigen.

Die allgemeine Lehre hieraus ist, dass unterschiedliche Ansätze beim Kohlenstoffpreis für die Industrie sehr unterschiedliche Auswirkungen haben. Die USA haben sich gegenwärtig für Zuckerbrot entschieden, während die EU primär auf die Peitsche setzt. Welcher Ansatz für das Klima besser ist, ist schwer zu sagen. Leicht vorhersagbar sind jedoch die erheblichen Spannungen im Bereich von Handel und Politik, die aus diesen gegenläufigen Entscheidungen resultieren.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/loKbLyRde