alton1_ Mark KerrisonIn Pictures via Getty Images_end genocide protest Mark Kerrison/In Pictures via Getty Images

Wer soll entscheiden, was Völkermord ist?

LONDON – Am 15. April forderten einige der weltweit angesehensten Anwälte für internationales Recht und britische Parlamentarier aller Parteien den britischen Premierminister Rishi Sunak und den britischen Außenminister David Cameronin einem öffentlichen Brief dazu auf, das Gesetz über die Feststellung von Völkermord zu unterstützen, das gerade im britischen Oberhaus beraten wird. Mit diesem von einem von uns (Alton) Ende 2022 eingebrachten Gesetz soll ein unabhängiger und unparteiischer Mechanismus geschaffen werden, der Gräueltaten verhindert und sicherstellt, dass das Vereinigte Königreich seinen Verpflichtungen aus der UN-Völkermordkonvention von 1948 nachkommt.

Im Dezember 2023 beging die internationale Gemeinschaft den 75. Jahrestag der Konvention. Trotzdem bleiben Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und andere Gräueltaten ein markantes und, wie es scheint, unveränderliches Merkmal unserer Welt.

Zwischen 2000 und 2020 erlebten mindestens 37 Länder Menschenrechtsverbrechen oder kamen dem gefährlich nahe. Die Auswirkungen dieser Verbrechen gehen weit über das unmittelbare Leid ihrer Opfer hinaus. Sie führen zu massiver Vertreibung, bedrohen Frieden und Sicherheit in der Welt, tragen zum Aufstieg autoritärer Regime bei und erhöhen damit die Gefahr weiterer Gräueltaten.

Trotz dieser Risiken haben Großbritannien und andere wichtige Länder lange den Fehler begangen, nicht selbst zu handeln, sondern die Verantwortung für die Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit an internationale Gerichte und Tribunale zu delegieren. Nach internationalem Recht haben sie jedoch die Pflicht, Völkermord zu verhüten. Nicht Gerichte, sondern die Regierungen selbst müssen regelmäßig prüfen, ob die Gefahr eines Völkermords besteht und „nach vernünftigem Ermessen alle verfügbaren Mittel“ nutzen, um diesen zu verhindern oder zu beenden.

Internationale Gericht können erst nachträglich prüfen, ob Rechte verletzt wurden. Die Weltgemeinschaft muss jedoch schon lange bevor Menschen zu Schaden kommen, politische, wirtschaftliche und rechtliche Schritte einleiten. Demnach müssen die Regierungen die Initiative ergreifen.

Leider versuchen Regierungen oft, ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen zu umgehen, indem sie Gräueltaten lieber nicht als „Völkermord“ einstufen. Sie argumentieren, dass diese Einstufung internationalen Gerichten überlassen sein sollte, und weigern sich, mit Tribunalen zusammenzuarbeiten, die helfen könnten, derartige Verbrechen zu verhindern, zu beenden oder zu bestrafen. Und was noch schlimmer ist: Diese Regierungen unterhalten häufig normale Beziehungen zu Ländern, denen solche Verbrechen vorgeworfen werden.

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Das Gesetz über die Feststellung von Völkermord soll diese Blockade durchbrechen. Wenn ein britischer Außenminister nicht anerkennt, dass die ernste Gefahr eines Völkermords besteht oder bereits ein Völkermord stattfindet, kann diesem Gesetzentwurf zufolge ein spezieller Parlamentsausschuss eine eigene Untersuchung einleiten. Stimmt der Außenminister den Ergebnisses des Ausschusses zu, kann er angemessene Maßnahmen ergreifen.

Weist der Außenminister die Schlussfolgerungen des Ausschusses dagegen zurück, wäre ein britisches Gericht befugt, vorläufig zu entscheiden, ob ein Völkermord bzw. das Risiko eines Völkermords vorliegt. Sollte das Gericht diese Frage mit ja beantworten, müsste der Minister darlegen, welche angemessenen Maßnahmen die Regierung ergreifen und welche völkerrechtlichen Mechanismen sie nutzen will, z. B. der Verweis an ein internationales Gericht. Die Androhung parlamentarischer Maßnahmen würde die Regierung zum Handeln zwingen.

Mit dem Gesetz soll ein praktischer Rahmen dafür geschaffen werden, dass Großbritannien seine Verpflichtungen nach der UN-Völkermordkonvention erfüllt. Dieser soll die Prävention und Bestrafung solcher Verbrechen durch konkrete politische Maßnahmen erleichtern, ohne die Außenpolitik einzuschränken.

Dabei ist zu beachten, dass dieses Gesetz nicht an bestimmte Situationen oder Konflikte gebunden ist. Ob Gräueltaten als Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet werden sollten, ist oft politisch und rechtlich umstritten. Das Gesetz ermöglicht eine unparteiische, unabhängige und unpolitische Entscheidung durch ein britisches Gericht, wenn alle anderen Optionen ausgeschöpft sind.

Indem sie ein vorläufige Entscheidung treffen, würden britische Gerichte als Schutzmechanismus gegen Untätigkeit, Apathie und Straflosigkeit dienen und die Idee stärken, dass Verbrechen gegen das Völkerrecht verboten sind, unabhängig davon, wer sie begeht. Das Gesetz soll sicherstellen, dass auch dann angemessen reagiert wird, wenn Regierungen zögern. Es soll das internationale Recht nicht erweitern, sondern stärken.

Auch wenn viel mehr getan werden muss, ist die Anerkennung der rechtliche und politischen Realität ein entscheidender erster Schritt. Ohne dieses Gesetz oder ähnliche Initiativen wird politisches Kalkül die Oberhand behalten und Menschenrechtsverletzungen wahrscheinlich noch häufiger vorkommen als bisher.

Die liberale regelbasierte Weltordnung ist heute so bedroht wie nie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und unsere seit langem etablierte internationale Rechtsordnung wird zunehmend in Frage gestellt und verletzt. Vor diesem Hintergrund bietet das Gesetz zur Feststellung von Völkermord der britischen Regierung die historische Chance, die Politik des Vereinigten Königreichs endlich an seinen Verpflichtungen und Werten auszurichten und somit anderen Regierungen als Vorbild zu dienen.

https://prosyn.org/VZlkpW6de