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Wer hat recht beim Thema Inflation?

PRINCETON/PARIS – Das Schreckgespenst der Inflation ist zurück. Zwei Jahrzehnte lang waren die Zentralbanken in den Industrieländern zuversichtlich gewesen, es für immer gebannt zu haben. Dann kam die Finanzkrise 2008, die auf beiden Seiten des Atlantiks für eine kurze Rückkehr der Inflationsangst sorgte. In den Vereinigten Staaten leiteten die republikanischen Kongressabgeordneten im Jahr 2010 einen Sparkurs ein, und die Europäische Zentralbank begann 2011, ihre Zinspolitik zu straffen. Anschließend begann sich allerdings in der Politik die Befürchtung breit zu machen, die Inflation wäre zu niedrig und möglicherweise nicht mehr anzuheben.

Nun ist die Inflation wieder in aller Munde. Aber wie ernst ist das zu nehmen? An diesem Punkt waren wir schließlich schon einmal – nicht nur im Jahr 2010.

Die aktuelle Debatte erinnert an das verworrene politische Umfeld der 1970er Jahre, als die Inflationstauben argumentierten, die Ölschocks des Jahrzehnts – die Verdreifachung der Preise 1973/1974 und erneut 1979 nach der islamischen Revolution im Iran – würden keine höheren Inflationserwartungen oder eine Inflationsspirale hervorrufen. Einige prominente Ökonomen wie der britische Keynesianer Roy Harrod meinten gar, dass wachstumsfördernde geld- und fiskalpolitische Maßnahmen zu einer Senkung der Preise führen würden, weil Produktion und Überschüsse steigen würden.

Daraufhin warnten die Inflationsfalken vor einer durch Banken- und Finanzinteressen begünstigten immer stärkeren Geldmengenausweitung. Der daraus resultierende Preisanstieg würde einen Ratchet-Effekt erzeugen, im Rahmen dessen organisierte Gruppen - insbesondere Gewerkschaften - höhere Lohnabschlüsse festschreiben würden.

Eine gängige historische Interpretation dieser Zeit besagt, dass Präsident Richard Nixon und später Präsident Jimmy Carter die US-Notenbank Federal Reserve dazu drängten, die Inflation zu forcieren. Widerlegt wird diese Auslegung allerdings durch den Fed-Ökonomen Edward Nelson in seiner jüngst erschienenen, umfassenden Studie über Nobelpreisträger Milton Friedman und die geldpolitische Debatte der 1970er Jahre. Nelson zeigt, dass Fed-Präsident Arthur F. Burns, ein Mann der makellosen monetären Orthodoxie und Vaterfigur Friedmans, entschlossen war, eine neue Inflationsspirale zu verhindern.

Allerdings vertrat Burns eine falsche Theorie über die Entstehung von Inflation. Er war zuversichtlich, dass die von ihm befürworteten Lohn- und Preiskontrollen jene Lohn-Preis-Spirale eindämmen würden, die ein einmaliger Schock zur Folge hätte. Die Fed begegnete der großen Inflation der 1970er Jahre also mit einer fehlerhaften Doktrin. Friedman erwarb sich mit seiner Prognose eines ausufernden Preiswachstums eine eindrucksvolle Reputation.

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Einige europäische Länder beschritten einen anderen Weg. Die Deutsche Bundesbank, die sich schon lange vor den Ölschocks Sorgen um die Inflation gemacht hatte, sah im Mai 1973 die Chance, den fixen Wechselkurs zwischen D-Mark und Dollar zu beenden. Damals sträubten sich die deutschen Banken gegen diesen Schritt, weil sie befürchteten, dass dies zu Zusammenbrüchen unter den Geldinstituten führen würde. Später jedoch, als die Inflation und damit die Zinsen in Deutschland niedriger lagen als in den USA, konnten deutsche Politikerinnen und Politiker argumentieren, dass es sich bei dem darauf folgenden Ölschock von 1973 wirklich um eine einmalige Episode handelte. Aufgrund dieses anfänglichen Erfolges war man in der Lage, das zu verkraften, und Deutschland war von dem weltweiten Abschwung im Jahr 1975 nur mäßig betroffen.

Generell kann ein einmaliger Schock ohne lang anhaltende Auswirkungen verkraftet werden, weil jeder weiß, dass es sich um ein Ausnahme-Ereignis handelt. Kommt es jedoch zu wiederholten Zyklen von Schocks und politischen Reaktionen darauf, zeichnet sich ein Muster ab. Der Blick der Menschen auf die Zukunft beginnt sich zu verändern, wenn die Ausnahme zur Normalität wird. In der Sprache der Zentralbanken heißt das: die Erwartungen werden entankert.

Ähnliche Argumente wurden im Hinblick auf umfangreiche militärische Operationen vorgebracht, die umfassende Haushaltsausgaben erforderten, welche wiederum die Nachfrage vorübergehend (also für die Dauer des Konflikts) in die Höhe trieben. Nach dem Ersten Weltkrieg strebten die USA und das Vereinigte Königreich eine schnelle Rückkehr zur „Normalität“ an und leiteten einen schmerzhaften Prozess der Disinflation ein. In Mitteleuropa herrschte jedoch eine tiefe, dauerhafte politische und soziale Unsicherheit, die den Eindruck erweckte, dass immer noch Bedingungen wie im Krieg herrschten und weiterhin haushaltspolitische Maßnahmen wie in Kriegszeiten erforderlich wären. Diese Länder gerieten auf den Pfad in Richtung Inflation und letztlich in die Hyperinflation.

Die gleiche Argumentation lässt sich auch auf die Covid-19-Pandemie anwenden. Es besteht kein Zweifel, dass umfassende geld- und haushaltspolitische Puffer dringend notwendig waren, um den unmittelbaren, durch das Virus ausgelösten Schock und die damit verbundenen Lockdowns der Wirtschaft abzumildern. Würde man diese Puffer zu einem klar definierten Zeitpunkt auslaufen lassen, hätte dies keine langfristigen Folgen für die Preiserwartungen.

Aber wie das Corona-Virus selbst könnte uns die wirtschaftliche Misere noch länger begleiten, da die Menschen weiterhin unter der Krankheit leiden. Nicht alle werden von den Auswirkungen gleich betroffen sein. Die Tourismus- und Reisebranche wird eine stark verzögerte Erholung erfahren und daher weiterhin auf staatliche Unterstützungen angewiesen sein. Die Herausforderung wird darin bestehen, schwer betroffene, aber noch lebensfähige Sektoren von jenen wirtschaftlichen Aktivitäten zu unterscheiden, die aufgrund technologischer Entwicklungen oder Verhaltensänderungen einen dauerhaften Schock erlitten haben.

Obwohl man in der Politik überall die Einmaligkeit des Covid-19-Schocks erkennt, weichen die Reaktionen darauf immer stärker voneinander ab. Die Regierung unter US-Präsident Joe Biden ist überzeugt, dass ihr kürzlich vorgelegtes Konjunkturpaket im Ausmaß von 1,9 Billionen Dollar (das zu den Ausgaben von 3,1 Billionen Dollar im Jahr 2020 noch hinzukommt) keine langfristigen Gefahren birgt.

Fed-Präsident Jerome Powell räumt ein, dass der wirtschaftliche Aufholbedarf zwar für einen kurzfristigen Inflationssprung sorgen könnte, glaubt allerdings, dass diese Entwicklung in Anbetracht der Erfahrungen der letzten 20 Jahre nur vorübergehender Natur sein würde. In ähnlicher Weise argumentiert auch die EZB, dass ein rascher Preisanstieg nicht als Rückkehr der Inflation überinterpretiert werden sollte. EZB-Chefin Christine Lagardeformulierte im Brustton der Überzeugung: „Es wird noch etwas dauern, bis wir uns um die Inflation Sorgen machen werden.“

Im Gegensatz dazu beginnen sich einige EU-Mitgliedsstaaten - vor allem im „sparsamen Norden“ -  vor einem neuen und gefährlichen weltweiten Inflationskonsens zu fürchten. Und auch einige Amerikaner, darunter der ehemalige Finanzminister Lawrence H. Summers, der Maßnahmen zur Konjunkturbelebung früher durchaus befürwortete, haben begonnen, ähnliche Bedenken zu artikulieren.

Da wie bei früheren Schocks nun die gleichen abweichenden Ansichten erneut zutage treten, brauchen wir einen einfachen Test, um durch diesen neuen, alten Inflationsdisput zu navigieren. Die alles entscheidende Frage lautet, ob wir zuverlässig damit rechnen können, dass der Ausnahmezustand ein Ende haben wird. Wenn wir diesen Moment klar definieren können, brauchen wir uns um Inflation keine Sorgen zu machen.  

Bringt jedoch eine Ausnahme immer weitere Ausnahmen hervor, gibt es keinen klaren Ausweg. Stattdessen werden sich die Erwartungen verschieben, und die Inflation wird zunehmend in unser Zukunftsbild einfließen. Das wird politische Unsicherheit und akute Polarisierung schaffen -  zwischen Ländern, die unter der Führung ängstlicher Falken stehen und jenen, die von zuversichtlichen Tauben regiert werden.  

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

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