WARWICK – Angesichts der gerade beendeten französischen Präsidentenwahl könnte man meinen, die alte Unterteilung in links und rechts sei so aktuell wie eh und je – ganz bestimmt jedenfalls an ihrem Geburtsort. Aber ist das wirklich so?
Das moderne politische Spektrum geht auf die Sitzordnung der französischen Nationalversammlung nach der Revolution von 1789 zurück. Zur Rechten des Versammlungspräsidenten saßen die Unterstützer des Königs und der Kirche, und zur Linken ihre Gegner, deren einzige Übereinstimmung in der Befürwortung politischer Reformen lag. Diese Unterscheidung entsprach der traditionellen kulturellen Assoziation von Rechts- und Linkshändigkeit mit Vertrauen bzw. Mißtrauen – in diesem Fall gegenüber dem Status Quo.
Rückblickend ist es erstaunlich, dass dieser Unterschied über 200 Jahre lang bis hin zu den reaktionären und radikalen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts die verschiedenen politischen Zusammenschlüsse geprägt hat. Aber der Rückgang der Wahlbeteiligung in den meisten modernen Demokratien lässt vermuten, dass diese Art der begrifflichen Erfassung ideologischer Unterschiede heute überholt sein könnte. Manchmal wird sogar behauptet, in einer zunehmend fragmentierten politischen Landschaft seien Ideologien und Parteien bedeutungslos geworden.
Aber am Horizont zeichnet sich ein Gegensatz ab, durch den die Unterscheidung zwischen rechts und links wieder mit Sinn erfüllt werden könnte: das politische Prinzip der “vorsichtigen” im Gegensatz zur “proaktiven” Einstellung gegenüber Risiken. Sozialpsychologisch ausgedrückt liegt der Schwerpunkt vorsichtiger Politiker darin, das Schlimmste zu verhindern, im Gegensatz zu den proaktiven Politikern, die die besten Gelegenheiten fördern möchten, die sich bieten.
Das Prinzip der Vorsicht ist das bekanntere der zwei und findet immer mehr Eingang in die Umwelt- und Gesundheitsgesetzgebung. Hier wird der hippokratische Eid auf die globale Ökologie übertragen: Das Prinzip, keinen Schaden zu verursachen, geht über alles. Das proaktive Prinzip hingegen wird mit den selbsternannten Futuristen assoziiert, für die “Mensch”-Sein in unserer Fähigkeit besteht, bei kalkulierten Risiken die Nase vorn zu haben und dabei entweder erfolgreich zu sein oder aus Fehlern zu lernen.
Der Unterschied zwischen diesen beiden Prinzipien tritt am besten in ihrer jeweiligen Auswirkung auf das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Technik zutage. Vorsichtige Politiker verweisen auf wissenschaftliche Unsicherheit, um technischen Fortschritt zu bremsen, während ihre proaktiven Kollegen Innovationen fördern, die aus der Überprüfung wissenschaftlicher Hypothesen entstehen.
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Auch in ihrer Sichtweise des Menschen gibt es gewisse Unterschiede. Vorsichtige Typen streben eine “nachhaltige” Menschheit an, was letztlich bedeutet, dass wir an Zahl abnehmen und jeder von uns weniger auf den Planeten einwirkt. Diejenigen, die zu Proaktivität neigen, sind bereit, ungeachtet der Ergebnisse die Bevölkerung des Planeten weiter zu vergrößern, wenn sich dies aus ihren Experimenten mit dem Leben ergibt.
Es ist offensichtlich, dass konventionelle Politiker und Unternehmer mit keiner der beiden Gruppen völlig übereinstimmen. Vorsichtige Politiker würden den Schutz unternehmerischer Werte gegenüber Wachstum bevorzugen, während das proaktive Lager dafür eintritt, dass der Staat die Menschen dazu anhält, Normen zu überwinden, statt ihnen zu entsprechen. Ein vorsichtiges Unternehmen sähe wie eine Miniaturversion des heutigen Regulierungsstaates aus, während ein proaktiver Staat sich wie ein großer Risikokapitalgeber verhalten würde.
Am auffälligsten ist aber vielleicht, dass weder in der vorsichtigen noch in der proaktiven Denkweise das alte Ideal vom Wohlfahrtsstaat vorkommt – dass wir uns beliebig fortpflanzen in einer Welt, die die Existenz unserer Nachfahren sichert. Ungeachtet ihrer sonstigen Unstimmigkeiten lehnen beide Seiten dieses Konzept als Fantasie des 20. Jahrhunderts ab, die lediglich in Nordeuropa nach dem zweiten Weltkrieg für ein paar Jahrzehnte realisiert wurde.
Hinter dieser Ablehnung steckt die Ansicht, dass sich das Selbstverständnis der Menschheit selbst in einem tiefen Wandel befindet. Dieser Wandel findet allerdings gleichzeitig in zwei diametral entgegengesetzten Richtungen statt, die ich “Menschheit 2.0” genannt habe.
Die vorsichtigen Typen würden uns wieder mit unseren bescheidenen tierischen Wurzeln vertraut machen, denen wir viel zu lang aus dem Weg gegangen sind, während die Vertreter des proaktiven Prinzips unseren Aufbruch weg von unserer evolutionären Vergangenheit vorantreiben würden. Zumindest würden sie unsere Biologie neu konstruieren, wenn sie sie nicht gar völlig durch ein intellektuell überlegenes und dauerhafteres Substrat ersetzen würden.
Sicher ist, dass die Prinzipien der Vorsicht und der Proaktivität in der allgemeinen politischen Diskussion eine relativ geringe Rolle spielen. Aber sie haben das Potenzial, die Achse der Ideologie um 90 Grad zu drehen. Die Rechte ist momentan in Traditionalisten und Libertäre gespalten, und die Linke in Kommunitaristen und Technokraten. Ich glaube, zukünftig werden die Traditionalisten und die Kommunitaristen den vorsichtigen Teil des Spektrums bilden, und die Libertären gemeinsam mit den Technokraten den proaktiven Pol.
Dies würde einer neuen Rechten und Linken entsprechen – oder eher einem neuen Oben und Unten. Die eine Gruppe wird mit der Erde verwurzelt sein, und die andere blickt nach oben zu den Sternen.
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Donald Trump's return to the White House will almost certainly trigger an unmanaged decoupling of the world’s most important geopolitical relationship, increasing the risk of global economic disruption and crisis. After all, Chinese leaders will be far less conciliatory than they were during his first term.
thinks Xi Jinping's government will be less accommodative of the “Tariff Man's” demands this time around.
No matter how committed Donald Trump and his oligarch cronies are to a tax cut, the laws of arithmetic cannot be repealed. If only a handful of Republican lawmakers keep their promise not to increase the US budget deficit, there is no way that the incoming administration can enact its economic agenda and keep the government running.
points out that no amount of bluster or strong-arming can overcome the laws of arithmetic.
WARWICK – Angesichts der gerade beendeten französischen Präsidentenwahl könnte man meinen, die alte Unterteilung in links und rechts sei so aktuell wie eh und je – ganz bestimmt jedenfalls an ihrem Geburtsort. Aber ist das wirklich so?
Das moderne politische Spektrum geht auf die Sitzordnung der französischen Nationalversammlung nach der Revolution von 1789 zurück. Zur Rechten des Versammlungspräsidenten saßen die Unterstützer des Königs und der Kirche, und zur Linken ihre Gegner, deren einzige Übereinstimmung in der Befürwortung politischer Reformen lag. Diese Unterscheidung entsprach der traditionellen kulturellen Assoziation von Rechts- und Linkshändigkeit mit Vertrauen bzw. Mißtrauen – in diesem Fall gegenüber dem Status Quo.
Rückblickend ist es erstaunlich, dass dieser Unterschied über 200 Jahre lang bis hin zu den reaktionären und radikalen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts die verschiedenen politischen Zusammenschlüsse geprägt hat. Aber der Rückgang der Wahlbeteiligung in den meisten modernen Demokratien lässt vermuten, dass diese Art der begrifflichen Erfassung ideologischer Unterschiede heute überholt sein könnte. Manchmal wird sogar behauptet, in einer zunehmend fragmentierten politischen Landschaft seien Ideologien und Parteien bedeutungslos geworden.
Aber am Horizont zeichnet sich ein Gegensatz ab, durch den die Unterscheidung zwischen rechts und links wieder mit Sinn erfüllt werden könnte: das politische Prinzip der “vorsichtigen” im Gegensatz zur “proaktiven” Einstellung gegenüber Risiken. Sozialpsychologisch ausgedrückt liegt der Schwerpunkt vorsichtiger Politiker darin, das Schlimmste zu verhindern, im Gegensatz zu den proaktiven Politikern, die die besten Gelegenheiten fördern möchten, die sich bieten.
Das Prinzip der Vorsicht ist das bekanntere der zwei und findet immer mehr Eingang in die Umwelt- und Gesundheitsgesetzgebung. Hier wird der hippokratische Eid auf die globale Ökologie übertragen: Das Prinzip, keinen Schaden zu verursachen, geht über alles. Das proaktive Prinzip hingegen wird mit den selbsternannten Futuristen assoziiert, für die “Mensch”-Sein in unserer Fähigkeit besteht, bei kalkulierten Risiken die Nase vorn zu haben und dabei entweder erfolgreich zu sein oder aus Fehlern zu lernen.
Der Unterschied zwischen diesen beiden Prinzipien tritt am besten in ihrer jeweiligen Auswirkung auf das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Technik zutage. Vorsichtige Politiker verweisen auf wissenschaftliche Unsicherheit, um technischen Fortschritt zu bremsen, während ihre proaktiven Kollegen Innovationen fördern, die aus der Überprüfung wissenschaftlicher Hypothesen entstehen.
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Auch in ihrer Sichtweise des Menschen gibt es gewisse Unterschiede. Vorsichtige Typen streben eine “nachhaltige” Menschheit an, was letztlich bedeutet, dass wir an Zahl abnehmen und jeder von uns weniger auf den Planeten einwirkt. Diejenigen, die zu Proaktivität neigen, sind bereit, ungeachtet der Ergebnisse die Bevölkerung des Planeten weiter zu vergrößern, wenn sich dies aus ihren Experimenten mit dem Leben ergibt.
Es ist offensichtlich, dass konventionelle Politiker und Unternehmer mit keiner der beiden Gruppen völlig übereinstimmen. Vorsichtige Politiker würden den Schutz unternehmerischer Werte gegenüber Wachstum bevorzugen, während das proaktive Lager dafür eintritt, dass der Staat die Menschen dazu anhält, Normen zu überwinden, statt ihnen zu entsprechen. Ein vorsichtiges Unternehmen sähe wie eine Miniaturversion des heutigen Regulierungsstaates aus, während ein proaktiver Staat sich wie ein großer Risikokapitalgeber verhalten würde.
Am auffälligsten ist aber vielleicht, dass weder in der vorsichtigen noch in der proaktiven Denkweise das alte Ideal vom Wohlfahrtsstaat vorkommt – dass wir uns beliebig fortpflanzen in einer Welt, die die Existenz unserer Nachfahren sichert. Ungeachtet ihrer sonstigen Unstimmigkeiten lehnen beide Seiten dieses Konzept als Fantasie des 20. Jahrhunderts ab, die lediglich in Nordeuropa nach dem zweiten Weltkrieg für ein paar Jahrzehnte realisiert wurde.
Hinter dieser Ablehnung steckt die Ansicht, dass sich das Selbstverständnis der Menschheit selbst in einem tiefen Wandel befindet. Dieser Wandel findet allerdings gleichzeitig in zwei diametral entgegengesetzten Richtungen statt, die ich “Menschheit 2.0” genannt habe.
Die vorsichtigen Typen würden uns wieder mit unseren bescheidenen tierischen Wurzeln vertraut machen, denen wir viel zu lang aus dem Weg gegangen sind, während die Vertreter des proaktiven Prinzips unseren Aufbruch weg von unserer evolutionären Vergangenheit vorantreiben würden. Zumindest würden sie unsere Biologie neu konstruieren, wenn sie sie nicht gar völlig durch ein intellektuell überlegenes und dauerhafteres Substrat ersetzen würden.
Sicher ist, dass die Prinzipien der Vorsicht und der Proaktivität in der allgemeinen politischen Diskussion eine relativ geringe Rolle spielen. Aber sie haben das Potenzial, die Achse der Ideologie um 90 Grad zu drehen. Die Rechte ist momentan in Traditionalisten und Libertäre gespalten, und die Linke in Kommunitaristen und Technokraten. Ich glaube, zukünftig werden die Traditionalisten und die Kommunitaristen den vorsichtigen Teil des Spektrums bilden, und die Libertären gemeinsam mit den Technokraten den proaktiven Pol.
Dies würde einer neuen Rechten und Linken entsprechen – oder eher einem neuen Oben und Unten. Die eine Gruppe wird mit der Erde verwurzelt sein, und die andere blickt nach oben zu den Sternen.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff