haass149_DIMITAR DILKOFFAFP via Getty Images_war DIMITAR DILKOFF/AFP via Getty Images

Warum der Krieg nicht so schnell enden wird

MÜNCHEN – In dem Jahr, das seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine vergangen ist, hat sich der Krieg anders entwickelt, als von vielen erwartet. Damals war die landläufige Meinung, die russischen Truppen würden die unterlegenen Ukrainer schnell überrennen und einen weit größeren Teil des Landes erobern als noch 2014. Andere gingen noch weiter und sagten voraus, Russland würde die Regierung in Kiew stürzen und durch ein Marionettenregime ersetzen, das sich der russischen Kontrolle beugt und keinerlei nach Westen orientierte Alternative zu dem Schattenreich darstellt, zu dem Wladimir Putins Russland geworden ist.

Angesichts dieser düsteren Prognosen hätten viele im Westen und in der Ukraine bereitwillig eine Version dessen akzeptiert, was wir heute haben, nämlich eine souveräne Ukraine, die noch etwa 80 Prozent ihres Hoheitsgebiets kontrolliert. Dass die Realität heute so ist, wie sie ist, haben wir der Schlagkraft des ukrainischen Militärs, dem kollektiven Mut der Ukrainerinnen und Ukrainer und ihrer Führung und der unerschütterlichen Unterstützung zu verdanken, die Europa und die USA der Ukraine in Form von Waffen, Geld, Ausbildung und nachrichtendienstlichen Informationen sowie durch die Aufnahme von Millionen Geflüchteten gewähren. Und der unglaublichen Unfähigkeit des russischen Militärs.

Nachdem der von ihm gewollte Krieg ganz anders verlaufen ist, als geplant, steht Putin heute vor ein paar schwierigen Entscheidungen. Seine Entschluss zum Angriff war nicht irrational. Er glaubte, die Ukraine könne seinem Militär nichts entgegensetzen, Europa (und insbesondere Deutschland) sei zu abhängig von russischem Gas, um sich mit ihm anzulegen, und die USA seien nach den Vorfällen vom 6. Januar und dem Debakel in Afghanistan zu gespalten und auf sich selbst fixiert, um die Verteidigung der Ukraine zu unterstützen. Weil sich all diese Annahmen als falsch herausgestellt haben, wurde aus Putins Kalkulation, der Nutzen der Invasion würden die Kosten bei weitem übersteigen, ein katastrophaler Rechenfehler.

Jetzt spielt Putin auf Zeit. Weil er die Ukraine militärisch nicht besiegen kann, lässt er wirtschaftliche und zivile Ziele angreifen, um den Willen der ukrainischen Bevölkerung zu brechen. Vielleicht glaubt er auch, dass es trotz aller Beteuerungen der westlichen Staats- und Regierungschefs nur eine Frage der Zeit ist, bis die europäischen Regierungen und die USA ihre Kosten für die Unterstützung der Ukraine neu bewerten.

Was verheißt das für die Zukunft? Kriege enden auf eine von zwei Arten: wenn die eine Seite die andere besiegt und ihr einen Frieden diktieren kann, oder wenn beide Seiten lieber einen Kompromiss schließen, als einen Krieg fortzuführen, den keine von beiden gewinnen kann.

Derzeit trifft keines von beidem auf diesen Krieg zu. Es ist zwar alles andere als sicher, ob die Ukraine Russland aus ihrem Hoheitsgebiet zurückdrängen kann, selbst wenn die westlichen Regierungen ihre Bedenken über Bord werfen und der Ukraine doch noch hochmoderne Waffensysteme liefern. Die russischen Truppen haben sich eingegraben und werden sich nur schwer vertreiben lassen. Und es ist gut möglich, oder sogar wahrscheinlich, dass China Russland lieber üppige wirtschaftliche und militärische Hilfen bereitstellt, als zuzusehen, wie ein von den USA angeführtes Bündnis seinen strategischen Partner besiegt.

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Und die russischen Streitkräfte werden einfach zu schlecht ausgebildet und angeführt, um die Ukraine im Kampf besiegen zu können. Luftangriffe auf zivile Ziele, ganz gleich wie brutal und teuer, können den Erfolg auf dem Schlachtfeld nicht ersetzen und haben zumindest bisher die Entschlossenheit der ukrainischen Bevölkerung nur weiter gestärkt.

Trotzdem sind die Chancen auf einen Kompromiss mager. Putin scheint entschlossen, den eingeschlagenen Kurs zu halten, aus Angst, seine Feinde könnten den Anschein einer Niederlage in der Ukraine nutzen, um ihn zu entmachten. Die Wirkung der Sanktionen ist begrenzt, weil Indien, China und andere Länder weiterhin Energielieferungen aus Russland beziehen. Und Putin kontrolliert die politische Wahrnehmung im Inland und hat viele Russen davon überzeugt, dass Russland das Opfer ist und von den USA und der NATO in einen Kampf um Leben und Tod gezwungen wurde.

Auch die Ukraine ist nicht gewillt, Kompromisse einzugehen. Fast alle Ukrainer wünschen sich heute die vollständige Befreiung des ukrainischen Hoheitsgebiets. Das lässt sich einfach erklären: der Krieg hat sie eines Besseren belehrt. Das militärische Können der Ukraine und die offensichtlichen Schwächen der russischen Truppen haben mehr als nur ein bisschen strategischen Optimismus für die Zukunft des Landes genährt.

Aber der Krieg hat auch ihre Herzen verhärtet. Russische Gräueltaten wie die Bombardierung von Wohnhäusern und die Ermordung von Zivilisten haben Rufe nach Reparationen und einem Kriegsverbrechertribunallaut werden lassen. Manche würden dieser Liste die Entmachtung Putins und seiner engsten Vertrauten hinzufügen und sehen nicht, wie die Ukraine ohne diesen Schritt einem Friedensabkommen überhaupt vertrauen könnte.

Kurz gesagt, ist die Lage alles andere als reif für Diplomatie. Eines Tages wird sich dies ändern, aber dieser Tag scheint noch weit entfernt. Die gute Nachricht (wenn es denn eine gibt) ist, dass sich die Heftigkeit des Krieges vermutlich abschwächen wird, weil beide Seiten Probleme haben werden, die gewaltigen Verluste auszugleichen, die sie in den letzten zwölf Monaten erlitten haben. Dafür fehlen ihnen schlicht die Soldaten, Waffen und wirtschaftlichen Ressourcen.

Auch eine Eskalation Russlands ist unwahrscheinlich. Es ergibt keinen Sinn, die NATO anzugreifen, wenn es offensichtlich ist, dass Russland nicht einmal die Ukraine besiegen kann. Atomwaffen haben wenig oder keinen militärischen Wert und sowohl China als auch Indien haben klar gemacht, dass sie deren Einsatz ablehnen. Und was noch wichtiger ist: Würde Russland Atomwaffen egal welchen Typs einsetzen, würden sich so gut wie sicher Truppen der USA und der NATO direkt am Krieg beteiligen.

Die schlechte Nachricht ist, dass der Krieg so bald nicht enden wird. Eine Karte der Ukraine in einem Jahr wird sehr vermutlich ziemlich genau so aussehen, wie eine Karte von heute. Das kommende Jahr wird erbärmlich, nicht entscheidend – und uns eher an den Ersten Weltkrieg erinnern als an den Zweiten.

All dies zusammengenommen ergibt einen bezeichnenden und ernüchternden Jahrestag. Der Krieg, von dem die meisten dachten, er würde schnell vorbei sein, wird uns vermutlich auch in einem Jahr wieder Anlass zur Erinnerung und Analyse bieten.

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