kolesnikov8_Alexei DruzhininTASS via Getty Images_putin Alexei Druzhinin/TASS via Getty Images

Putins Kunst der Säuberung

MOSKAU – Politische Säuberungen auf höchster Ebene finden in Russland immer häufiger statt. Erst Ende März wurde Michail Abyzow verhaftet, früher Minister für Offene Regierungsangelegenheiten, und – zwei Tage später – Wiktor Ischajew, ehemals Fernostminister und Ex-Gouverneur der russischen Region Chabarowsk. Da überrascht es nicht, dass diese Verhaftungen führender Politiker auf die Elite des Landes einschüchternd wirken.

Inzwischen haben die Behörden drei ehemalige Regierungsminister und mehrere Regionalbeamte verhaftet oder eingesperrt – alle aufgrund von Korruptions- oder Betrugsvorwürfen. Ein früherer Minister für Wirtschaftsentwicklung, Alexej Uljukajew, büßt momentan eine achtjährige Gefängnisstrafe ab. Und Wjatscheslaw Gaiser, der ehemalige Chef der russischen Republik Komi, steht vor Gericht und könnte zu einer Haftstrafe von bis zu 21 Jahren verurteilt werden. Alexander Khoroschawin, der ehemalige Gouverneur der Region Sachalin, wurde zu 13 Jahren verurteilt, und Nikita Belych, sein Kollege aus der Region Kirow und ehemaliger Vorsitzender der inzwischen aufgelösten liberalen Partei SPS zu acht Jahren. Auch gegen Senator Rauf Araschukow wird wegen einiger schwerer Verbrechen ermittelt.

In der Sowjetunion nach 1953, dem Todesjahr von Josef Stalin, waren politische Säuberungen relativ selten. Bis vor ein paar Jahren galt dies auch noch für das nachsowjetische Russland, auch wenn 2004 nach sechs Jahren Verhandlung einige führende Statistikbeamte wegen Korruption zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Dies erinnerte an eine frühere Zeit: Von 1918 bis 1941 gab es acht Vorsitzende der Statistikbehörde. Fünf von ihnen wurden zwischen 1937 und 1939 unter Stalins Aufsicht erschossen.

Auf niedrigerer Ebene sind Säuberungen, Kündigungen und Prozesse in Russland natürlich häufiger. Laut dem Politikforscher Nikolai Petrow eröffnen die Behörden jährlich 18-20 Strafverfahren gegen Gouverneure, stellvertretende Gouverneure oder Bürgermeister.

Aber ehemalige Ministerpräsidenten, ihre Stellvertreter und Minister im Allgemeinen konnten sich in der nachsowjetischen Zeit bisher weitgehend sicher fühlen. Sie verließen sich auf die Solidarität ihrer Kollegen und gingen davon aus, das System werde sich nicht selbst dadurch in Misskredit bringen, dass es die Verhaftung ehemaliger hochrangiger Beamter zuließ. Sogar der Oppositionspolitiker Boris Nemzow, der 2015 in der Moskauer Stadtmitte erschossen wurde, glaubte, er sei vor dem Staat sicher, weil er einmal stellvertretender Ministerpräsident war.

Ob der Staat bei der Beauftragung des Mordes an Nemzow nun beteiligt war oder nicht, die jüngsten Verhaftungen von Abyzow and Ischajew haben solche Hoffnungen auf Verschonung jedenfalls zunichte gemacht. Sie signalisieren, dass Putins Säuberungen jetzt auf ehemalige Mitglieder der Föderalregierung ausgedehnt werden – sogar solche, die auf offiziellen Fotos neben Putin, Ministerpräsident Dmitri Medwedew und anderen Mitgliedern der russischen Regierungsriege zu sehen sind.

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Auf den ersten Blick scheinen diese jüngsten Verhaftungen die Regierung zu diskreditieren. Immerhin ermitteln die russischen Strafverfolgungsbehörden bereits seit Jahren gegen Abyzow and Ischajew – auch schon zu der Zeit, als sie noch Minister waren. Darüber hinaus war Abyzow 2018 zuletzt ein Berater Putins. Sollen wir wirklich glauben, dass der Staatschef nichts von den (angeblichen) geschäftlichen Betrügereien eines hohen Kreml-Beamten weiß?

Aber die öffentliche Meinung ist nicht so eindeutig. Die meisten Russen sehen keine Verbindung zwischen den Ermittlungen gegen hohe Beamte und der Glaubwürdigkeit der Behörden. Im Gegenteil: Die Menschen scheinen sich mit Putins Botschaft zu identifizieren, das Establishment räume endlich mit der Korruption auf.

Wichtiger aber ist die Botschaft an Russlands aufgescheuchte Eliten. Und diese Botschaft ist klar: Niemand ist vor Verfolgung sicher, sogar nachdem er – wie Abyzow und Ischajew – aus dem öffentlichen Dienst entlassen wurde und keinen Einfluss mehr hat.

Darüber hinaus ist der selektive Druck stärker geworden. Vor ein paar Jahren wurden die Beschuldigten lediglich an den Pranger gestellt – wie Andrei Beljaninow, der ehemalige Vorsitzende des staatlichen Zolldienstes, als die Behörden ein Video ihrer Durchsuchung seiner Luxusvilla veröffentlichten, in dem mit Dollarnoten gefüllte Schuhkartons zu sehen waren. Heute hingegen werden die Verdächtigen sofort verhaftet, insbesondere dann, wenn Putin kein Interesse an ihnen hat. Dies traf auf Uljukajew und Belych zu, die der Gruppe der systemtreuen Liberalen angehörten, und auch auf Abyzow, der als loyal gegenüber Medwedew betrachtet wurde. Und wenn Abyzows Verhaftung Medwedew nervös macht, um so besser.

Für Putin ist die Erinnerung der russischen Eliten daran, dass niemand unangreifbar ist, die beste Art, sie unter Kontrolle zu halten. Jeder vernünftige Volkskommissar unter Stalin hielt für den Fall, dass er plötzlich verhaftet würde, immer eine Tasche mit einigen persönlichen Gegenständen bereit. Putins Untergebene täten wohl gut daran, dasselbe zu tun. Darüber hinaus müssen sie verstehen, dass die Entlassung von ihrem Posten nicht nur das Ende einer unangenehmen Episode sein könnte, sondern auch der Beginn von etwas viel Schlimmerem.

Die momentanen Säuberungen senden auch eine Botschaft an Russlands nächste Generation von Beamten, dass unangebrachtes politisches Verhalten oder die übermäßige Beschäftigung mit ihren eigenen unternehmerischen Interessen bestraft werden. Unter Stalin spielten die Säuberungen fast die gleiche Rolle. Damals wussten die neuen Volkskommissare und ihre Stellvertreter, dass sie, wenn ihre ehemaligen Chefs verhaftet wurden (oder schlimmer), das große Los gezogen hatten. Aber die jungen Kommissare verstanden auch, dass sich ihr Los bei dieser staatlich sanktionierten Lotterie schnell in einen Haftbefehl verwandeln konnte.

Auch Putin bevorzugt für Minister- oder Gouverneursposten jüngere Technokraten: zielstrebige und diensteifrige loyale Beamte im Alter zwischen 40 und 50 Jahren, die vorzugsweise weder Verbindungen zu lokalen Eliten noch den Ehrgeiz haben, sich mit politischen Themen zu beschäftigen.

Diese Neulinge sind bereits jetzt über die andauernden Säuberungen verängstigt und werden ohne das Einverständnis der Führung nichts unternehmen. Und so wird jede ernsthafte Modernisierung in Russland blockiert – genau wie es Putin beabsichtigt.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

https://prosyn.org/nTcBhoede