LONDON – Schlagzeilen zum Thema Migration können unerträglich grausam sein: Neo-Faschisten greifen Ausländer in Griechenland an, Dutzende Hausangestellte im Golf zum Tode verurteilt, eine haarsträubende und herzlose Kampagne der britischen Regierung, um Migranten zu vertreiben. Doch obwohl die aggressive Stimmung gegen Migranten in großen Teilen der Welt anhält und sich sogar verstärkt, sind vielversprechende Anzeichen für einen aufgeklärteren Umgang mit der Migration zu erkennen.
Die USA befinden sich gerade mitten in einer intensiven Debatte über einen umfassenden Umbau des Einwanderungssystems. Nach einem Vierteljahrhundert des praktischen Stillstands stehen die amerikanischen Gesetzgeber kurz vor der Einigung über Reformen, die es 11 Millionen Migranten ohne Ausweispapiere erlauben würden, die amerikanische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Die vorgeschlagenen Änderungen würden die USA auch zu einem Magneten für Talent und Kreativität aus der ganzen Welt machen.
Die finanziellen und wirtschaftlichen Argumente für einen liberaleren Ansatz zum Thema Migration haben die amerikanische Debatte geprägt. Laut dem überparteilichen Congressional Budget Office führt das im Juni vom US-Senat verabschiedete Reformgesetz in den nächsten zwei Jahrzehnten zu Steuereinnahmen von fast einer Billion. Befürworter merken auch an, dass Immigranten 28 Prozent aller Startups in Amerika gründeten, obwohl sie nur 13 Prozent der Bevölkerung darstellen.
Die Stimmen der Befürworter aus Basis und Establishment waren gleichermaßen ausschlaggebend. „Dreamer“ – Kinder, die in den USA aufwachsen, aber keinen legalen Status haben – haben der Reform ein menschliches Gesicht verliehen. Wirtschaftsführer, die lange vor der Teilnahme an einer derart polarisierenden Debatte zurückschreckten, haben schließlich doch Farbe bekannt, mit dem starken Argument, die Immigration sei wesentliche Voraussetzung für den Erhalt der amerikanischen Wettbewerbsfähigkeit. Dank dieser entschlossenen Arbeit sind 72 Prozent der Amerikaner laut einer neuen Gallup-Umfrage der Meinung, Immigration sei ein Nettogewinn für das Land.
Angesichts seiner Geschichte ist es nur natürlich, dass Amerika die Führung in Sachen Immigration übernimmt. Deutschland zum Beispiel gilt gemeinhin nicht als progressiv auf diesem Gebiet. Aber dennoch hat Deutschland in den vergangenen Jahren in aller Stille nicht weniger getan als andere Länder auch, um attraktiv für Ausländer zu werden und sich als Einwanderungsland neu zu erfinden. Allein 2012 sind eine Million Menschen nach Deutschland gekommen. Heute hat ein Fünftel der deutschen Bevölkerung – und ein Drittel der Schulkinder – einen Migrationshintergrund.
Im Juli hat Deutschland 40 Prozent seiner Einwanderungsregeln über Bord geworfen und die Hürden für Fachkräfte mit mittlerer Qualifizierung wie Zugführer und Maschinenschlosser gesenkt. Die deutschen Einwanderungsbestimmungen für hochqualifizierte Fachkräfte sind innerhalb der OECD die liberalsten. Und doch werden 2020 laut offiziellen Schätzungen in Deutschland zwei Millionen Fachkräfte fehlen.
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Die jüngsten Reformen wollen Immigranten nicht nur anziehen, sondern ihnen auch helfen, ihr Potenzial zu erfüllen. So fokussiert sich Deutschland darauf, Ausländern zu helfen, Ihre Abschlüsse anerkennen zu lassen, so dass zum Beispiel Ärzte nicht Taxi fahren müssen. Öffentliche Einrichtungen wie die Polizei stellen mehr Immigranten ein. Die Charta der Vielfalt, eingerichtet 2006 und ursprünglich von nur vier Unternehmen unterstützt, wird jetzt von mehr als 1500 Unternehmen unterzeichnet. Und 4 Prozent der Kandidaten für die Bundestagswahlen im September haben einen Migrationshintergrund, mehr als jemals zuvor.
Auch andere Länder haben sich die Reform auf die Fahnen geschrieben. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben ihre Gesetze geändert, um die Lebensbedingungen von Migranten zu verbessern und ihre Rechte zu stärken. Dieser Aktivismus ist bemerkenswert, weil in anderen Golfstaaten wie Saudi Arabien ein ganz anderer, eher rückständiger Ansatz eher üblich ist. In Brasilien will man einen Wettbewerbsvorteil erzielen, indem man es Ausländern einfacher macht, mit ihren Familien zu emigrieren. Die Liste der Reformer wächst.
Noch überraschender ist, dass neue internationale Normen vorangebracht werden. Das 2011 geschlossene Übereinkommen über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte tritt am 5. September in Kraft und wird die Arbeitsrechte von Millionen der verletzlichsten Wanderarbeiter schützen. Das Abkommen gewinnt schnell an Dynamik und wurde bereits von Ländern wie Deutschland, Italien, Argentinien und Südafrika unterzeichnet.
All dieser Fortschritt kommt zu einem günstigen Zeitpunkt. Im Oktober wird die Generalversammlung der Vereinten Nationen zum zweiten Mal das Thema internationale Migration behandeln. Der erste Gipfel 2006 hatte die Gründung einer wichtigen neuen Institution zur Folge, dem Global Forum on Migration and Development. In den sieben Jahren seit seiner Entstehung hat das Forum dazu Vertrauen, Wissen und Kooperation zwischen Staaten und anderen Stakeholdern aufgebaut.
Die Zusammenarbeit hat einige überwältigende Erfolge erzielt. Migranten mussten früher eine Gebühr von fast 15 Prozent bezahlen, um Geld nach Hause zu schicken, jetzt sind es nur noch 9 Prozent, in einigen Fällen sogar fast Null, was das allgemeine Ziel sein sollte. Da Migranten im vergangenen Jahr allein 401 Milliarden Dollar nach Hause schickten, würde ein Fortschritt zweistellige Millionenbeträge für einige der ärmsten Haushalte der Welt frei machen.
Aber wir brauchen noch höhere Ziele. Beim UN-Gipfel im Oktober sollten sich die Beteiligten von den Wegbereitern in den USA, in Deutschland, den VAE und anderswo inspirieren lassen. Wenn auf nationaler Ebene auch gegen toxischen Populismus tiefgreifende Veränderungen möglich sind, sollte es auf internationaler Ebene einfacher sein, wo die Kooperation hauptsächlich Gewinner erzeugt. (Die Verlierer sind normalerweise die unerwünschten Akteure: Schmuggler, Menschenhändler, gewalttätige Anwerber und ausbeuterische Arbeitgeber.)
Die Staaten müssen nicht in allen Aspekten der Migration übereinstimmen, um sich auf eine Agenda für gemeinsame Aktion zu einigen. Es gibt keinen Mangel an Problemen, die angegangen und an Gelegenheiten, die ergriffen werden können. Wir müssen die unerwünschten Akteure in ihre Schranken verweisen, gegen Diskriminierung von Migranten und gegen Menschenhandel vorgehen, erreichen, dass mehr Migranten auf ihrem höchsten Fähigkeitsniveau arbeiten, Verletzung von Einwanderungsbestimmungen entkriminalisieren, die Verhaftung von Migrantenkindern stoppen, Flüchtlinge zu produktiven Mitglieder unserer Gemeinschaften machen und die Anzahl von Migranten senken, die keine Aufenthaltsrechte haben.
Einige Befürworter von offenen Grenzen schätzen, dass ungehinderte Grenzübergänge weltweit das globale Bruttoinlandsprodukt verdoppeln könnten. Eine grenzenlose Welt ist zwar politisch nicht vertretbar, aber diese Zahl zeigt doch, welches Entwicklungspotenzial in einem gut organisierten System globaler Mobilität steckt.
Migrationsreform ist nichts für Zaghafte. Aber alle, die eines der wichtigsten Themen des einundzwanzigsten Jahrhunderts mitgestalten und eine Welt schaffen wollen, in der internationale Migranten gerecht und mit Würde behandelt werden, werden es zu ihrem eigenen machen.
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Though Donald Trump attracted more support than ever from working-class voters in the 2024 US presidential election, he has long embraced an agenda that benefits the wealthiest Americans above all. During his second term, however, Trump seems committed not just to serving America’s ultra-rich, but to letting them wield state power themselves.
The reputation of China's longest-serving premier has fared far better than that of the Maoist regime he faithfully served. Zhou's political survival skills enabled him to survive many purges, and even to steer Mao away from potential disasters, but he could not escape the Chairman's cruelty, even at the end of his life.
reflects on the complicated life and legacy of the renowned diplomat who was Mao Zedong’s dutiful lieutenant.
LONDON – Schlagzeilen zum Thema Migration können unerträglich grausam sein: Neo-Faschisten greifen Ausländer in Griechenland an, Dutzende Hausangestellte im Golf zum Tode verurteilt, eine haarsträubende und herzlose Kampagne der britischen Regierung, um Migranten zu vertreiben. Doch obwohl die aggressive Stimmung gegen Migranten in großen Teilen der Welt anhält und sich sogar verstärkt, sind vielversprechende Anzeichen für einen aufgeklärteren Umgang mit der Migration zu erkennen.
Die USA befinden sich gerade mitten in einer intensiven Debatte über einen umfassenden Umbau des Einwanderungssystems. Nach einem Vierteljahrhundert des praktischen Stillstands stehen die amerikanischen Gesetzgeber kurz vor der Einigung über Reformen, die es 11 Millionen Migranten ohne Ausweispapiere erlauben würden, die amerikanische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Die vorgeschlagenen Änderungen würden die USA auch zu einem Magneten für Talent und Kreativität aus der ganzen Welt machen.
Die finanziellen und wirtschaftlichen Argumente für einen liberaleren Ansatz zum Thema Migration haben die amerikanische Debatte geprägt. Laut dem überparteilichen Congressional Budget Office führt das im Juni vom US-Senat verabschiedete Reformgesetz in den nächsten zwei Jahrzehnten zu Steuereinnahmen von fast einer Billion. Befürworter merken auch an, dass Immigranten 28 Prozent aller Startups in Amerika gründeten, obwohl sie nur 13 Prozent der Bevölkerung darstellen.
Die Stimmen der Befürworter aus Basis und Establishment waren gleichermaßen ausschlaggebend. „Dreamer“ – Kinder, die in den USA aufwachsen, aber keinen legalen Status haben – haben der Reform ein menschliches Gesicht verliehen. Wirtschaftsführer, die lange vor der Teilnahme an einer derart polarisierenden Debatte zurückschreckten, haben schließlich doch Farbe bekannt, mit dem starken Argument, die Immigration sei wesentliche Voraussetzung für den Erhalt der amerikanischen Wettbewerbsfähigkeit. Dank dieser entschlossenen Arbeit sind 72 Prozent der Amerikaner laut einer neuen Gallup-Umfrage der Meinung, Immigration sei ein Nettogewinn für das Land.
Angesichts seiner Geschichte ist es nur natürlich, dass Amerika die Führung in Sachen Immigration übernimmt. Deutschland zum Beispiel gilt gemeinhin nicht als progressiv auf diesem Gebiet. Aber dennoch hat Deutschland in den vergangenen Jahren in aller Stille nicht weniger getan als andere Länder auch, um attraktiv für Ausländer zu werden und sich als Einwanderungsland neu zu erfinden. Allein 2012 sind eine Million Menschen nach Deutschland gekommen. Heute hat ein Fünftel der deutschen Bevölkerung – und ein Drittel der Schulkinder – einen Migrationshintergrund.
Im Juli hat Deutschland 40 Prozent seiner Einwanderungsregeln über Bord geworfen und die Hürden für Fachkräfte mit mittlerer Qualifizierung wie Zugführer und Maschinenschlosser gesenkt. Die deutschen Einwanderungsbestimmungen für hochqualifizierte Fachkräfte sind innerhalb der OECD die liberalsten. Und doch werden 2020 laut offiziellen Schätzungen in Deutschland zwei Millionen Fachkräfte fehlen.
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Auch andere Länder haben sich die Reform auf die Fahnen geschrieben. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben ihre Gesetze geändert, um die Lebensbedingungen von Migranten zu verbessern und ihre Rechte zu stärken. Dieser Aktivismus ist bemerkenswert, weil in anderen Golfstaaten wie Saudi Arabien ein ganz anderer, eher rückständiger Ansatz eher üblich ist. In Brasilien will man einen Wettbewerbsvorteil erzielen, indem man es Ausländern einfacher macht, mit ihren Familien zu emigrieren. Die Liste der Reformer wächst.
Noch überraschender ist, dass neue internationale Normen vorangebracht werden. Das 2011 geschlossene Übereinkommen über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte tritt am 5. September in Kraft und wird die Arbeitsrechte von Millionen der verletzlichsten Wanderarbeiter schützen. Das Abkommen gewinnt schnell an Dynamik und wurde bereits von Ländern wie Deutschland, Italien, Argentinien und Südafrika unterzeichnet.
All dieser Fortschritt kommt zu einem günstigen Zeitpunkt. Im Oktober wird die Generalversammlung der Vereinten Nationen zum zweiten Mal das Thema internationale Migration behandeln. Der erste Gipfel 2006 hatte die Gründung einer wichtigen neuen Institution zur Folge, dem Global Forum on Migration and Development. In den sieben Jahren seit seiner Entstehung hat das Forum dazu Vertrauen, Wissen und Kooperation zwischen Staaten und anderen Stakeholdern aufgebaut.
Die Zusammenarbeit hat einige überwältigende Erfolge erzielt. Migranten mussten früher eine Gebühr von fast 15 Prozent bezahlen, um Geld nach Hause zu schicken, jetzt sind es nur noch 9 Prozent, in einigen Fällen sogar fast Null, was das allgemeine Ziel sein sollte. Da Migranten im vergangenen Jahr allein 401 Milliarden Dollar nach Hause schickten, würde ein Fortschritt zweistellige Millionenbeträge für einige der ärmsten Haushalte der Welt frei machen.
Aber wir brauchen noch höhere Ziele. Beim UN-Gipfel im Oktober sollten sich die Beteiligten von den Wegbereitern in den USA, in Deutschland, den VAE und anderswo inspirieren lassen. Wenn auf nationaler Ebene auch gegen toxischen Populismus tiefgreifende Veränderungen möglich sind, sollte es auf internationaler Ebene einfacher sein, wo die Kooperation hauptsächlich Gewinner erzeugt. (Die Verlierer sind normalerweise die unerwünschten Akteure: Schmuggler, Menschenhändler, gewalttätige Anwerber und ausbeuterische Arbeitgeber.)
Die Staaten müssen nicht in allen Aspekten der Migration übereinstimmen, um sich auf eine Agenda für gemeinsame Aktion zu einigen. Es gibt keinen Mangel an Problemen, die angegangen und an Gelegenheiten, die ergriffen werden können. Wir müssen die unerwünschten Akteure in ihre Schranken verweisen, gegen Diskriminierung von Migranten und gegen Menschenhandel vorgehen, erreichen, dass mehr Migranten auf ihrem höchsten Fähigkeitsniveau arbeiten, Verletzung von Einwanderungsbestimmungen entkriminalisieren, die Verhaftung von Migrantenkindern stoppen, Flüchtlinge zu produktiven Mitglieder unserer Gemeinschaften machen und die Anzahl von Migranten senken, die keine Aufenthaltsrechte haben.
Einige Befürworter von offenen Grenzen schätzen, dass ungehinderte Grenzübergänge weltweit das globale Bruttoinlandsprodukt verdoppeln könnten. Eine grenzenlose Welt ist zwar politisch nicht vertretbar, aber diese Zahl zeigt doch, welches Entwicklungspotenzial in einem gut organisierten System globaler Mobilität steckt.
Migrationsreform ist nichts für Zaghafte. Aber alle, die eines der wichtigsten Themen des einundzwanzigsten Jahrhunderts mitgestalten und eine Welt schaffen wollen, in der internationale Migranten gerecht und mit Würde behandelt werden, werden es zu ihrem eigenen machen.
Aus dem Englischen von Eva Göllner.