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Die moralische Krise der Pandemie

PRINCETON – COVID-19 hat uns erneut die Bedeutung unseres lokalen Umfelds für unser Leben vor Augen geführt. Unsere soziale Isolation und die – vielerorts erreichen – Grenzen der staatlichen Autorität verdeutlichen uns angesichts einer unsichtbaren Gefahr, wie wichtig wohnungsnahe Ressourcen und örtliche Lösungen für uns sind. Internationaler Handel und weltweite Reisen haben das Virus in unsere Nachbarschaft und an unseren Arbeitsplatz gebracht, aber zum Eindämmen der Pandemie mussten wir unsere regionalen und lokalen Gesundheitsdienste mobilisieren.

Da überrascht es nicht, dass wir angesichts der unsichtbaren Bedrohung von Berichten über die Widerstandskraft vor Ort fasziniert sind. Wir entdecken diese Reaktionsstärke und Findigkeit in den täglichen Lagebesprechungen der US-Gouverneure, in der Geduld der Nachbarn und in den Opfern, die von den medizinischen Helfern gebracht werden. Staatliche Zahlen interessieren uns kaum. Wir sagen uns immer wieder: „Die Welt ist ein gefährlicher Ort. Gut, dass wir unsere Nachbarn, unsere örtlichen Behörden und unsere lokalen Institutionen haben.“

Und trotzdem ist die Krise, der wir ausgesetzt sind, von grundlegend globaler Natur. Seufzen wir erleichtert auf, wenn die Ansteckungsraten in China, Frankreich oder den Vereinigten Staaten zurückgehen, werden wir auf den nächsten Ausbruch am Ende der Welt nicht vorbereitet sein. Wir können den Menschen jenseits unserer Grenzen nicht den Rücken kehren. Tun wir dies dennoch, dann wird die globale Gesundheits- und Wirtschaftskrise zu einer moralischen Krise der Globalisierung.

Vielleicht feiern wir lokale und regionale Lösungen. Aber können wir weit und tief genug denken, um das nötige Engagement aufzubringen, uns mit dem Schicksal weit entfernter Fremder zu konfrontieren? Oder verwandeln sich die Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen in ein ethisches Minenfeld, in dem wir uns nur durch unser dumpfes Eigeninteresse leiten lassen?

Bewegt sich das Coronavirus über die Infektionsknoten in Asien, Europa und Nordamerika hinaus, wird es neue Gebiete in Afrika und Lateinamerika erobern, in denen Tests und Behandlungen vielerorts nur sehr begrenzt möglich sind. In Lateinamerika, der ungleichsten Region der Welt, wurden bei einer Bevölkerungszahl von etwa 650 Millionen bis jetzt über 50.000 Fälle von COVID-19 bestätigt. Afrika verzeichnet bei einer Einwohnerzahl von 1,3 Milliarden momentan nur etwa 10.000 Fälle. Für COVID-19 sind die Türen dort weit offen.

Das Virus wird dabei auf die schwächsten und am wenigsten vorbereiteten Gesellschaften treffen. Viele von ihnen waren im letzten Jahr steigenden politischen Spannungen und zunehmender Instabilität ausgesetzt, was die Lage noch schlimmer macht.

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Diese Entwicklungsgebiete leiden gleichzeitig unter schlechter Verwaltung, extremer Ungleichheit (insbesondere in den großen Städten) und erhöhter Migration. Im letzten Jahrzehnt sind in Epizentren wie Honduras – der Quelle der „Migrantenkaravanen“, die US-Präsident Donald Trump vor über einem Jahr in fremdenfeindliche Zuckungen versetzt haben – oder dem Südsudan, aus dem etwa 2,3 Millionen Flüchtlinge in benachbarte Länder geflohen sind, Millionen Menschen vor Gewalt und schlechten Umweltbedingungen entkommen. Dies sind keine Gesellschaften oder Regimes, die mit einer Pandemie fertig werden können. Das Mittel zum Überleben ist dort die Flucht. Aber woanders Zuflucht zu finden, erhöht die Gefahr, die Pandemie zu exportieren.

Wenn wir jetzt nicht zu denken und zu handeln beginnen, wird die Standardlösung darin bestehen, Länder mithilfe von Stacheldraht und Grenzpatrouillen in Leichenhallen zu verwandeln. Nehmen wir Venezuela, wo die Behörden lediglich 189 Fälle bestätigt haben – eine Zahl, der nur wenige glauben. Schon seit langer Zeit findet im Land eine erhebliche institutionelle Auflösung statt, die sich in den letzten Jahren in die schlimmste humanitäre Katastrophe der westlichen Hemisphäre verwandelt hat. In den Gefängnissen hungern die Gefangenen. Über die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren sind unterernährt, davon 16% schwer. Und fast fünf Millionen Venezolaner, etwa 15% der Bevölkerung, sind geflohen – meist in benachbarte Länder.

Dass das Coronavirus auch in Venezuela wüten wird, ist unvermeidlich, und sämtliche Bemühungen, seine Verbreitung unter Kontrolle zu bringen oder seine Folgen abzumildern, werden an der chronischen politischen Krise des Landes scheitern. Wie bereits aus den schwächsten Staaten Afrikas werden die Menschen auch aus Venezuela erneut in Scharen fliehen, was in Ländern wie Brasilien und insbesondere Kolumbien Gesundheitsprobleme auslösen wird. Das Ergebnis wird eine wirtschaftliche und humanitäre Krise in der gesamten Region sein.

Aber das Problem beschränkt sich nicht nur auf Länder wie Venezuela oder den Südsudan. Alle Flüchtlinge der Welt werden von COVID-19 am schwersten getroffen. Momentan gibt es offiziell 70 Millionen von ihnen – eine Zahl, die keine Klimaflüchtlinge oder andere Migranten einschließt. Fast alle von ihnen haben keinen Zugang zu staatlichen und bürgerlichen Ressourcen zu ihrem Schutz. Und definitionsgemäß haben sie auch kein Recht auf die Staatshilfen, mit denen Asien, Europa und Nordamerika gerettet werden sollen.

Was wird in den Flüchtlingslagern der Vereinten Nationen und der NGOs geschehen, von denen einige die Größe von Städten haben und die bereits jetzt mit Stacheldraht umgeben sind? Und was wird aus den 46% der weltweiten Flüchtlinge, die nicht in Lagern leben, wie in Jordanien, Südafrika oder Mexiko, die aber keine Unterstützung der Lokalbehörden suchen oder bekommen können, weil sie von ihren Gastgebern sozial geächtet werden?

Wir können uns vorbereiten. Bei der Begrenzung früherer Epidemien waren globale Reaktionen entscheidend. Ebola tauchte erstmals 1976 in Zentralafrika auf. Bei jedem neuen Ausbruch taten sich die lokalen Gesundheitsbehörden und die internationalen Experten zusammen, um die Verbreitung der Seuche unter Kontrolle zu bekommen. Während der letzten großen Welle in Westafrika zwischen 2014 und 2016 arbeitete die US-Regierung unter Präsident Barack Obama mit der Weltgesundheitsorganisation zusammen, um die Bemühungen vor Ort durch Schutzausrüstung, Notvorräte und Behandlungseinheiten zu unterstützen.

Und nun muss verhindert werden, dass unsere Ressourcen dann, wenn die globalen Armen von der Seuche überrollt werden, bereits überstrapaziert oder gar erschöpft sind. Glücklicherweise werden wir bis dahin auch wissen, was funktioniert und was nicht, da wir es am eigenen Leib erfahren haben.

Deshalb müssen wir uns nun vorbereiten, auch wenn Experten und Politiker eifrig eine Rückkehr zur Normalität verkünden. Verraten wir die Idee der Humanität und wenden wir uns von den nahen und fernen Fremden ab, wird es keine Normalität mehr geben.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

https://prosyn.org/Xfzpfpwde