NEW YORK – Die Bombardierung des Gazastreifens geht weiter, die Anzahl der zivilen Todesopfer steigt auf über 1.200 – ein Viertel davon Kinder – und weltweit findet eine zunehmende Polarisierung statt. Die Unterstützer der israelischen Angriffe berufen sich auf das Recht des Landes, seine Bürger vor terroristischen Attacken zu schützen. Gegner meinen, das massenhafte Töten von Zivilisten und die Zerstörung wichtiger Infrastruktur könne durch nichts gerechtfertigt werden.
Es überrascht nicht, dass auch die israelische Gesellschaft polarisiert ist. Auch wenn die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu ihre Hasbara (je nach Sichtweise „öffentliche Diplomatie“ oder „Beeinflussung“) vollständig mobilisiert hat und ihre Position hart vertritt, füllen sich die israelischen Straßen immer mehr mit Friedensaktivisten. Israelis aller Lebenslagen und eine zunehmende Anzahl von Diaspora-Juden melden sich zu Wort und distanzieren sich von dem, was sie als Israels wiederholte Verletzung internationalen Rechts und die Ungerechtigkeit eines bürgerlichen und rechtlichen Zweiklassensystems bezeichnen.
Dabei entstehen Situationen, die einst undenkbar erschienen. Kürzlich unterschrieben beispielsweise über 50 israelische Reservisten eine Petition, in der sie ihre Wehrdienstverweigerung erklärten und dies mit vielen Arten von Unterdrückung begründeten – insbesondere mit dem zweigleisigen Rechtssystem, das Palästinenser diskriminiert, und mit der „brutalen“ Art der militärischen Besatzung. Dazu kommt eine wachsende Anzahl anderer ehemaliger israelischer Soldaten, die detailliert die tägliche Ungerechtigkeit und Demütigung beschreiben, der die Palästinenser ausgesetzt sind.
Auf einer anderen Ebene wird im November in der Londoner Schule für Orient- und Afrikastudien eine Konferenz mit dem Titel „Die Grenzen in Frage stellen: Ein israelisch-palästinensischer Einheitsstaat“ abgehalten. Dort wird die Idee einer säkularen, demokratischen und vielfältigen Gesellschaft nach dem Vorbild Südafrikas nach der Apartheid diskutiert. Dies ist eine Vision, der sich jüngere, progressive Israelis, Diaspora-Juden und Palästinenser mit immer mehr Interesse und Hoffnung anschließen. Auch wenn noch keine Lösung in Sicht ist, werden doch neue Gespräche geführt – solche, die das rechtsgerichtete israelische Establishment und seine Unterstützer im Ausland auf direkte Weise in Frage stellen.
Diese Herausforderung würde das israelische Establishment lieber ignorieren. Nach einer der tödlichsten Nächte der israelischen „Operation Schutzlinie” in Gaza, die viele Verteidiger der Menschenrechte als Massaker bezeichnet haben, versuchte die Polizei aus angeblichen „Sicherheitsgründen“ schätzungsweise 10.000 Menschen davon abzuhalten, sich auf den Straßen von Tel Aviv zu versammeln, um gegen die von den Organisatoren so bezeichnete illegale Besatzung und Militäraktion gegen die Palästinenser zu protestieren. Die Demonstration wurde ohne Gewalt fortgesetzt.
Die gleichzeitig im Westjordanland demonstrierenden Palästinenser hatten dieses Glück nicht. Teilnehmer berichteten, dass israelische Polizei und Soldaten gegen die Kundgebungen scharfe Munition einsetzten. Am Ende des Tages waren fünf palästinensische Demonstranten tot.
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Trotz der Hindernisse, vor denen israelische Friedensaktivisten stehen – wie Einschüchterung und Gewalt durch rechte Nationalisten – dauert ihre Bewegung an. Trotzdem ist es für Menschen, denen beigebracht wurde, sich gegenseitig zu hassen, oft einfacher, sich im Cyberspace zu treffen, als im richtigen Leben. Auf Facebook dokumentiert die Seite IsraelliebtPalästina, die fast 26.000 Menschen „gefällt“, Aufmärsche, Treffen und andere Aktionen zur Unterstützung der Palästinenser und gegen empfundene israelische Ungerechtigkeiten. Die Seite PalästinaliebtIsrael – mit Überschriften wie „GENUG! BEENDET DEN KRIEG“ – „gefällt“ fast ebenso vielen.
Aber eine aktive Friedensbewegung, in der Israelis und Palästinenser ihre Interessen gegenseitig anerkennen und neue Diskussionen zur Beendigung des jahrzehntelangen Konflikts führen, ist vielleicht nicht genug, um dem wachsenden Extremismus, insbesondere auf der israelischen Seite, zu begegnen. Laut einer Meinungsumfrage des israelischen Demokratieinstituts und der Universität von Tel Aviv vom Juli halten über 95% der jüdischen Israelis die „Operation Schutzlinie“ für gerechtfertigt, und weniger als 4% glauben, Israel habe übermäßige Gewalt angewendet. Und tatsächlich meinten fast 50% der Befragten, es sei noch zu wenig passiert.
Hier ist es entscheidend, die beunruhigende Wendung in der Rhetorik einiger Israelis und Diaspora-Juden zu beachten, die dazu benutzt wird, um die Militäroffensive in Gaza zu rechtfertigen. Beispiele dafür gibt es viele: Ein rechtsgerichtetes Mitglied der israelischen Knesset betonte, die Zivilisten im Gazastreifen sollten „ausgemerzt“ werden, da keiner von ihnen unschuldig sei. Die amerikanische Komikerin Joan Rivers verteidigte die Bombardierung von Gazas Zivilisten auf sehr grobe Weise. Tomer Sijonow, ein Freund eines toten israelischen Soldaten, meinte kürzlich zum Guardian, die gesamte Bevölkerung in Gaza müsse getötet werden.
Wie gefährlich ist eine solche Sprache? Der israelische Historiker Michael Oren, ein ehemaliger israelischer Botschafter in den Vereinigten Staaten, sagt dazu: „In den klassischen Szenarien der Entmenschlichung, ob in Nazideutschland oder in Ruanda vor dem Völkermord, werden die Feinde als Ratten oder Kakerlaken bezeichnet, was einem die Möglichkeit gibt, sie in großem Maßstab umzubringen.“ Oren fügt hinzu: „Wir bezeichnen die Palästinenser nicht als Kakerlaken.“
Aber es ist nicht die Wahl von Bezeichnungen, die Menschen dazu bringen kann, massenhaft Zivilisten zu töten. Wichtig ist, ob die Rhetorik von Politikern oder großen Medien so ausgerichtet ist, dass sie die „anderen“ als existenzielle Bedrohung darstellt. 1994 haben die Hutus nicht deshalb fast eine Million Tutsis abgeschlachtet, weil sie die Tutsis als „Kakerlaken“ gesehen hätten, sondern deshalb, weil sie zu der Überzeugung gebracht wurden, die Tutsis würden sie sonst zuerst töten.
Solche Wendepunkte in der Sprache spiegeln die Akzeptanz einer flächenmäßigen Bombardierung von Stadtvierteln, Krankenhäusern und Schulen wider und fördern diese noch. Eines Tages werden die Details der „Operation Schutzlinie“ erforscht werden und in die Geschichtsbücher eingehen. Vorher aber muss sich Israel moralisch zwischen zwei Wegen entscheiden: Einer davon beinhaltet die Verpflichtung für einen gerechten Frieden und führt zu einer höheren Form von Gemeinschaft. Der andere führt an einen sehr finsteren Ort. Die Seele einer Nation steht vor dem Scheideweg.
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Though Donald Trump attracted more support than ever from working-class voters in the 2024 US presidential election, he has long embraced an agenda that benefits the wealthiest Americans above all. During his second term, however, Trump seems committed not just to serving America’s ultra-rich, but to letting them wield state power themselves.
The reputation of China's longest-serving premier has fared far better than that of the Maoist regime he faithfully served. Zhou's political survival skills enabled him to survive many purges, and even to steer Mao away from potential disasters, but he could not escape the Chairman's cruelty, even at the end of his life.
reflects on the complicated life and legacy of the renowned diplomat who was Mao Zedong’s dutiful lieutenant.
NEW YORK – Die Bombardierung des Gazastreifens geht weiter, die Anzahl der zivilen Todesopfer steigt auf über 1.200 – ein Viertel davon Kinder – und weltweit findet eine zunehmende Polarisierung statt. Die Unterstützer der israelischen Angriffe berufen sich auf das Recht des Landes, seine Bürger vor terroristischen Attacken zu schützen. Gegner meinen, das massenhafte Töten von Zivilisten und die Zerstörung wichtiger Infrastruktur könne durch nichts gerechtfertigt werden.
Es überrascht nicht, dass auch die israelische Gesellschaft polarisiert ist. Auch wenn die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu ihre Hasbara (je nach Sichtweise „öffentliche Diplomatie“ oder „Beeinflussung“) vollständig mobilisiert hat und ihre Position hart vertritt, füllen sich die israelischen Straßen immer mehr mit Friedensaktivisten. Israelis aller Lebenslagen und eine zunehmende Anzahl von Diaspora-Juden melden sich zu Wort und distanzieren sich von dem, was sie als Israels wiederholte Verletzung internationalen Rechts und die Ungerechtigkeit eines bürgerlichen und rechtlichen Zweiklassensystems bezeichnen.
Dabei entstehen Situationen, die einst undenkbar erschienen. Kürzlich unterschrieben beispielsweise über 50 israelische Reservisten eine Petition, in der sie ihre Wehrdienstverweigerung erklärten und dies mit vielen Arten von Unterdrückung begründeten – insbesondere mit dem zweigleisigen Rechtssystem, das Palästinenser diskriminiert, und mit der „brutalen“ Art der militärischen Besatzung. Dazu kommt eine wachsende Anzahl anderer ehemaliger israelischer Soldaten, die detailliert die tägliche Ungerechtigkeit und Demütigung beschreiben, der die Palästinenser ausgesetzt sind.
Auf einer anderen Ebene wird im November in der Londoner Schule für Orient- und Afrikastudien eine Konferenz mit dem Titel „Die Grenzen in Frage stellen: Ein israelisch-palästinensischer Einheitsstaat“ abgehalten. Dort wird die Idee einer säkularen, demokratischen und vielfältigen Gesellschaft nach dem Vorbild Südafrikas nach der Apartheid diskutiert. Dies ist eine Vision, der sich jüngere, progressive Israelis, Diaspora-Juden und Palästinenser mit immer mehr Interesse und Hoffnung anschließen. Auch wenn noch keine Lösung in Sicht ist, werden doch neue Gespräche geführt – solche, die das rechtsgerichtete israelische Establishment und seine Unterstützer im Ausland auf direkte Weise in Frage stellen.
Diese Herausforderung würde das israelische Establishment lieber ignorieren. Nach einer der tödlichsten Nächte der israelischen „Operation Schutzlinie” in Gaza, die viele Verteidiger der Menschenrechte als Massaker bezeichnet haben, versuchte die Polizei aus angeblichen „Sicherheitsgründen“ schätzungsweise 10.000 Menschen davon abzuhalten, sich auf den Straßen von Tel Aviv zu versammeln, um gegen die von den Organisatoren so bezeichnete illegale Besatzung und Militäraktion gegen die Palästinenser zu protestieren. Die Demonstration wurde ohne Gewalt fortgesetzt.
Die gleichzeitig im Westjordanland demonstrierenden Palästinenser hatten dieses Glück nicht. Teilnehmer berichteten, dass israelische Polizei und Soldaten gegen die Kundgebungen scharfe Munition einsetzten. Am Ende des Tages waren fünf palästinensische Demonstranten tot.
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Aber eine aktive Friedensbewegung, in der Israelis und Palästinenser ihre Interessen gegenseitig anerkennen und neue Diskussionen zur Beendigung des jahrzehntelangen Konflikts führen, ist vielleicht nicht genug, um dem wachsenden Extremismus, insbesondere auf der israelischen Seite, zu begegnen. Laut einer Meinungsumfrage des israelischen Demokratieinstituts und der Universität von Tel Aviv vom Juli halten über 95% der jüdischen Israelis die „Operation Schutzlinie“ für gerechtfertigt, und weniger als 4% glauben, Israel habe übermäßige Gewalt angewendet. Und tatsächlich meinten fast 50% der Befragten, es sei noch zu wenig passiert.
Hier ist es entscheidend, die beunruhigende Wendung in der Rhetorik einiger Israelis und Diaspora-Juden zu beachten, die dazu benutzt wird, um die Militäroffensive in Gaza zu rechtfertigen. Beispiele dafür gibt es viele: Ein rechtsgerichtetes Mitglied der israelischen Knesset betonte, die Zivilisten im Gazastreifen sollten „ausgemerzt“ werden, da keiner von ihnen unschuldig sei. Die amerikanische Komikerin Joan Rivers verteidigte die Bombardierung von Gazas Zivilisten auf sehr grobe Weise. Tomer Sijonow, ein Freund eines toten israelischen Soldaten, meinte kürzlich zum Guardian, die gesamte Bevölkerung in Gaza müsse getötet werden.
Wie gefährlich ist eine solche Sprache? Der israelische Historiker Michael Oren, ein ehemaliger israelischer Botschafter in den Vereinigten Staaten, sagt dazu: „In den klassischen Szenarien der Entmenschlichung, ob in Nazideutschland oder in Ruanda vor dem Völkermord, werden die Feinde als Ratten oder Kakerlaken bezeichnet, was einem die Möglichkeit gibt, sie in großem Maßstab umzubringen.“ Oren fügt hinzu: „Wir bezeichnen die Palästinenser nicht als Kakerlaken.“
Aber es ist nicht die Wahl von Bezeichnungen, die Menschen dazu bringen kann, massenhaft Zivilisten zu töten. Wichtig ist, ob die Rhetorik von Politikern oder großen Medien so ausgerichtet ist, dass sie die „anderen“ als existenzielle Bedrohung darstellt. 1994 haben die Hutus nicht deshalb fast eine Million Tutsis abgeschlachtet, weil sie die Tutsis als „Kakerlaken“ gesehen hätten, sondern deshalb, weil sie zu der Überzeugung gebracht wurden, die Tutsis würden sie sonst zuerst töten.
Solche Wendepunkte in der Sprache spiegeln die Akzeptanz einer flächenmäßigen Bombardierung von Stadtvierteln, Krankenhäusern und Schulen wider und fördern diese noch. Eines Tages werden die Details der „Operation Schutzlinie“ erforscht werden und in die Geschichtsbücher eingehen. Vorher aber muss sich Israel moralisch zwischen zwei Wegen entscheiden: Einer davon beinhaltet die Verpflichtung für einen gerechten Frieden und führt zu einer höheren Form von Gemeinschaft. Der andere führt an einen sehr finsteren Ort. Die Seele einer Nation steht vor dem Scheideweg.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff