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Assange ist frei, aber sind wir es auch?

LJUBLJANA ‑ Ich habe jahrelang mit und für Julian Assange gekämpft. Aber als ich hörte, dass er seine Freiheit wiedererlangt hat, war mein erster Gedanke, dass er in eine Welt zurückkehren wird, die viel schlimmer aussieht und ist als die, die er hinter sich gelassen hat. Pandemien, Kriege und der weit verbreitete ökologische Zusammenbruch zwingen uns dazu, die große Frage zu stellen: In welchem Sinne sind wir, die wir die frische Luft außerhalb der Gefängnisse atmen, noch frei?

Auch unsere fiktiven Geschichten werden immer schlimmer. Der neue Kinderfilm Inside Out 2 (dt. Alles steht Kopf 2) erzählt die Geschichte der 13-jährigen Riley, die gerade in die Pubertät kommt. Ihre personifizierten Emotionen ‑ Freude, Traurigkeit, Angst, Wut und Ekel ‑ haben in ihrem Kopf einen neuen Bereich geschaffen, der „Sense of Self“ genannt wird. Dann tauchen vier neue Emotionen auf ‑ Angst, Neid, Verlegenheit, Überdruss ‑, und es entsteht ein Konflikt. Die Freude möchte, dass Riley sich darauf konzentriert, im Hockey-Camp Spaß zu haben, während die Angst möchte, dass Riley einen Platz im Hockey-Team bekommt und neue Freunde findet. Am Ende lernen die erste und die zweite Generation der Emotionen, zusammenzuarbeiten, um Rileys sich ständig veränderndes Selbstgefühl zu schützen, und lassen die Zuschauer mit einer völlig verzerrten Bild der menschlichen Psyche zurück.

In der realen Welt eskalieren diese inneren psychischen Spannungen oft bis zum Wahnsinn. Ein viel besserer Film hätte die Gefühle eines palästinensischen Jungen in den Ruinen von Gaza gezeigt und nicht die eines Mädchens aus einem wohlhabenden Vorort von Los Angeles. Statt gemeinsam ein stabiles Selbst zu bilden, würden seine widersprüchlichen Emotionen ihn in den psychischen Zusammenbruch und zu selbstmörderischen Gewalttaten treiben. Erinnern wir uns an die wunderbare Beschreibung von G.K. Chesterton:

„Ein Soldat, der von Feinden umzingelt ist, muss, wenn er sich einen Weg herausschneiden will, einen starken Wunsch nach Leben mit einer seltsamen Sorglosigkeit gegenüber dem Sterben verbinden. Er darf sich nicht nur an das Leben klammern, denn dann wäre er ein Feigling und würde nicht entkommen. Er darf nicht nur auf den Tod warten, denn dann wäre er ein Selbstmörder und würde nicht entkommen. Er muss sein Leben in einem Geist der wütenden Gleichgültigkeit ihm gegenüber suchen; er muss das Leben wie Wasser begehren und doch den Tod wie Wein trinken.“

Oleh Sentsovs neuer Film Real spiegelt diese Kombination von Gegensätzen perfekt wider. Nachdem er mehrere Jahre als politischer Gefangener in Russland verbracht hatte, kämpfte Sentsov für die ukrainische Armee. Der Film besteht aus 90 Minuten Filmmaterial, das mit seiner GoPro-Kamera aufgenommen wurde, ohne dass er wusste, dass die Kamera in Betrieb war. Ungeschnitten zeigt er die seltsame Mischung aus Terror und Langeweile, die das Leben an der Front bestimmt.

Diese Dualität zieht sich durch den ganzen Film. Die banale Brutalität der Realität wird von magischen Momenten unterbrochen, die man am besten als sinnlos bezeichnen könnte. Sentsov erinnert sich an einen Moment, kurz vor Beginn der Aufnahmen zu Real: „Da war ein Soldat namens Johnny, ein Veteran des Afghanistan-Krieges. Er war auf dem Weg, um Verwundete zu evakuieren, aber er wurde getroffen und schaffte es, einen letzten Funkspruch abzusetzen, in dem er sagte: ‚Hier ist Johnny. Ich bin tot‘.“ Es ist ein Moment von echter metaphysischer Absurdität.

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Viele Kritiker meinen, Real zeige den Krieg, wie er wirklich ist. Wäre das Sentsovs Botschaft, wäre sein Film ein weiteres pazifistisches Loblied auf die sinnlose Absurdität des Krieges. Doch obwohl Sentsov die brutale Absurdität der Situation billigt, glaubt er am Ende doch, dass der Kampf für eine gerechte Sache weitergehen muss. Indem er alle Romantik des Heldentums auf dem Schlachtfeld entfernt, zeigt Real, was wahrer Mut bedeutet: das Elend des militärischen Kampfes zu akzeptieren und es nicht durch pathetische Fantasien zu verschleiern.

Das ist die Botschaft, die wir jetzt brauchen. Im Fall der Ukraine wurde der Pazifismus benutzt, um die militärische Aggression Russlands zu entschuldigen. Die Botschaft derer, die gegen die Unterstützung des Westens für die Ukraine sind, lautet: „Ihr dürft euch nicht gegen die Besatzer stellen, denn dann werdet ihr wie sie.“ Im Heiligen Land ist die Botschaft ähnlich, aber die Art und Weise, wie die Mainstream-Medien über die Ereignisse berichten, ist völlig anders. Es wird ständig versucht, unsere Wahrnehmung der Ereignisse zu formen und zu manipulieren, um die emotionale Wirkung zu begrenzen. Während Israelis in einem „Massaker“ getötet werden, werden Palästinenser nur „tot aufgefunden“. Diese Formen „sanfter“ Zensur sind im öffentlichen Diskurs allgegenwärtig.

Wussten Sie, dass eine große Gruppe israelisch-jüdischer Intellektueller kürzlich alle EU-Mitgliedstaaten, Großbritannien und andere Länder aufgefordert hat, den Staat Palästina anzuerkennen? Über diesen mutigen Akt wurde in den westlichen Medien kaum berichtet. Wichtige Ereignisse, die die westliche Öffentlichkeit beunruhigen könnten, werden entweder gar nicht oder nur mit einer kleinen Notiz am Ende der Seite erwähnt.

Wie viele Menschen haben mitbekommen, dass Israel am 20. Juni 2024 eine Art Annexion des Westjordanlandes vollzogen hat, indem die israelischen Verteidigungskräfte ihre Befugnisse an „siedlerfreundliche Beamte“ übertragen haben? Die Ironie dieses Schrittes wird den Palästinensern nicht entgangen sein. Während eine militärische Besatzung eine gewisse Distanz zu Israel impliziert, bedeutet diese neue Regelung, dass sie in die israelische Zivilordnung integriert werden ‑ auch wenn diese von Chauvinisten beherrscht wird, die sie ausschließen wollen.

Diese Beispiele zeigen, warum wir Helden wie Assange brauchen. Er hat getan, was getan werden musste, und er hat einen hohen Preis dafür bezahlt. Es ist an der Zeit, dass andere die Arbeit fortsetzen, die er begonnen hat. Mit „Arbeit“ meine ich nicht nur einen Job, sondern eine Berufung: etwas, wozu man berufen ist. Assange hat sich nicht entschieden, Wikileaks zu gründen und Staatsgeheimnisse zu enthüllen, um sein Leben aufzupeppen. Er tat es, weil er es nicht anders konnte. Deshalb glaube ich, dass er trotz all des Leids, das er ertragen musste, ein glücklicher Mensch ist.

Deutsch von Andreas Hubig

https://prosyn.org/3V6fP9mde