NEW YORK – Die gängige Meinung nach den jüngsten Angriffen Israels auf iranische Militäreinrichtungen in Vergeltung für den iranischen Raketenangriff auf Israel besagt, dass das Risiko einer weiteren Eskalation eingedämmt wurde. Erste Äußerungen des Obersten Führers der Islamischen Republik deuteten darauf hin, dass der Iran nicht weiter reagieren würde, und die Finanzmärkte schienen dem zuzustimmen, da die Ölpreise unmittelbar nach den israelischen Angriffen um 5 % fielen (auch wenn sie nach neuen kriegerischen Äußerungen einiger iranischer Militärkommandeure wieder etwas gestiegen sind).
Doch dürfte die gängige Meinung falsch sein. Israels Einschätzung der vom Iran ausgehenden Bedrohung hat sich in den letzten Monaten drastisch geändert. Nicht nur die Ansichten von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und seinen rechten Verbündeten haben sich verhärtet; auch führende Vertreter der oppositionellen Parteien der Mitte und der gemäßigten Linken – wie Benny Gantz und Yair Lapid – argumentieren, dass Israel über seine jüngsten Angriffe hinausgehen sollte.
Egal, ob man der Einschätzung Israels zustimmt oder nicht, besteht dort inzwischen ein Konsens, dass das iranische Regime eine unmittelbare, eindeutige und gegenwärtige Gefahr darstellt. Angesichts der fortdauernden Angriffe auf Israel durch iranische Stellvertreterorganisationen – Hamas, Hisbollah, die Huthis und schiitische Milizen im Irak und in Syrien – ist die israelische Führung zu dem Schluss gekommen, dass sie das Problem an der Wurzel packen muss. Das könnte bedeuten, iranische Atomanlagen ins Visier zu nehmen und die oberste militärische und politische Führung des Regimes auszuschalten, so wie es Israel bereits gegenüber der Hamas und der Hisbollah getan hat. Durch Ausschaltung der obersten Führung der Hisbollah und Zerstörung eines Großteils ihrer Offensivkapazitäten haben die Israelis das Abschreckungspotenzial des Iran gegenüber Israel deutlich reduziert.
Aufgrund dieser radikalen Veränderung des relativen Kräfteverhältnisses hat der Iran nur noch eine einzige wirksame Option, um Israel abzuschrecken, nachdem selbst seine Offensivraketen und sonstigen Waffen keinen nennenswerten Schaden mehr anrichten konnten: den Versuch, seine Atomwaffenfähigkeit zu entwickeln. Da Israel aber einen nuklear bewaffneten Iran als existenzielle Bedrohung ansieht, hätte es keine andere Möglichkeit, als die iranischen Nuklearanlagen (sowie die iranische Führungsspitze) anzugreifen, bevor der Iran eine brauchbare Waffe baut.
Weitere israelische Luftangriffe sind sehr wahrscheinlich, unabhängig davon, wie viel Zurückhaltung der Iran zeigt. Ein Sieg Donald Trumps bei den US-Präsidentschaftswahlen könnte Israel zwar sehr viel deutlicher grünes Licht für ein Vorgehen gegen den Iran geben, doch auch ein Sieg von Kamala Harris würde Israel womöglich nicht davon abhalten, Maßnahmen gegen etwas zu ergreifen, das es als existenzielle Bedrohung empfindet.
Sollte Israel beginnen, seine Angriffe auf den Iran – womöglich im Anschluss an neue iranische Angriffe auf Israel – schrittweise zu verstärken, würde jede US-Regierung dies unweigerlich weiter unterstützen, entweder direkt oder indirekt. Ob Israel in der Lage ist, den größten Teil des iranischen Atomprogramms zu zerstören oder einen Regimewechsel im Iran herbeizuführen, ist dabei irrelevant; selbst eine begrenzte Beschädigung der iranischen Atomanlagen könnte die nuklearen Ambitionen des Landes um einige Jahre zurückwerfen und die von Israel gewünschte Abschreckung schaffen.
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Die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation in den kommenden Wochen und Monaten bedeutet, dass es wirtschaftliche und finanzielle Risiken zu bewältigen gilt. Ein ausreichend großer israelischer Schlag gegen den Iran könnte die Energieproduktion und die Exporte aus der Golfregion empfindlich stören. Ein verzweifelter Iran könnte versuchen, den Golf zu verminen und die Straße von Hormus zu blockieren, und zugleich die saudischen Ölanlagen angreifen. In diesem Szenario würde die Welt stagflationäre Schocks ähnlich jenen erleben, die auf den Jom-Kippur-Krieg 1973 und die iranische Revolution 1979 folgten.
Steil steigende Ölpreise wären eine Katastrophe für die Weltwirtschaft und das Wohlergehen von Milliarden von Menschen, und die politischen Entscheidungsträger sollten über Maßnahmen nachdenken, die diesen Schlag abmildern. Es wäre hilfreich, wenn ein größerer Konflikt so kurz wie möglich wäre. Israel müsste den Iran mit äußerster Härte und Präzision angreifen, und nicht über viele Monate hinweg. Minenräumboote (wie Japan sie betreibt) müssten schnell eingesetzt werden, um den Golf schnellstmöglich zu räumen.
Darüber hinaus müssten die USA Saudi-Arabien mit fortschrittlichen Verteidigungstechnologien – z. B. zusätzlichen Patriot-Raketenabwehrsystemen – ausstatten, um das Risiko zu minimieren, dass der Iran die saudischen Ölförder- und -liefereinrichtungen zerstört. Und das Königreich muss seine Ölproduktion und den Export seiner Überkapazitäten massiv steigern, um einen möglichen globalen Preisanstieg zu verringern, während die USA und andere Mächte ihre strategischen Ölreserven nutzen sollten, um die Auswirkungen weiter zu dämpfen.
Die Regierungen der hochentwickelten Volkswirtschaften und der Schwellenländer können zudem vorübergehende steuerliche Subventionen für Energieverbraucher einführen, wie sie nach dem Preisanstieg im Gefolge des russischen Einmarschs in der Ukraine 2022 umgesetzt wurden. Und die Notenbanken können auf jeden Stagflationsschock reagieren, indem sie die Leitzinsen konstant halten oder sogar senken. Da die Inflationserwartungen (anders als in den 1970er Jahren) gut verankert sind, dürfen die Notenbanken nicht überreagieren, indem sie als Reaktion auf einen Schock, der sich als vorübergehend erweisen (und etwa ein paar Monate dauern) dürfte, ihre Geldpolitik straffen.
Da ein umfassender israelischer Angriff auf den Iran sehr riskant wäre, würde eine Harris-Regierung wahrscheinlich dringend davon abraten. Abgesehen von den weltweiten wirtschaftlichen und finanziellen Folgen würde ein Scheitern bei der Zerstörung der iranischen Atomanlagen das Regime nur in seiner Entscheidung zur Entwicklung einer Waffe bestärken.
Ein Erfolg hingegen könnte erhebliche Vorteile mit sich bringen. Das iranische Regime – seit langem eine Quelle großer Instabilität im Nahen Osten – würde stark geschwächt, und eine starke Schwächung des Iran schwächt auch dessen Stellvertreterorganisationen in der Region. In der Tat wäre eine Volksrevolution im Iran nach groß angelegten israelischen Angriffen nicht auszuschließen. Das Regime ist schon jetzt schwach, unpopulär und wird von den meisten Iranern verabscheut. Sein Sturz könnte die Voraussetzungen für einen Waffenstillstand im Gazastreifen, eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien und irgendwann auch die Wiederaufnahme von Gesprächen über eine Zweistaatenlösung für Israel und Palästina verbessern.
Ein israelischer Angriff auf den Iran ist also eine hochriskante Strategie mit hohem potenziellen Nutzen, die entweder zu einer globalen wirtschaftlichen Katastrophe oder einer Neugestaltung des Nahen Ostens zum Besseren führen könnte. So sehen es jedenfalls die Israelis, und weitere iranische Provokationen gegen Israel sind wahrscheinlich. Unabhängig davon, ob man die israelische Einschätzung teilt, ist eine Eskalation des Konflikts sehr wahrscheinlich.
World order is a matter of degree: it varies over time, depending on technological, political, social, and ideological factors that can affect the global distribution of power and influence norms. It can be radically altered both by broader historical trends and by a single major power's blunders.
examines the role of evolving power dynamics and norms in bringing about stable arrangements among states.
Donald Trump has left no doubt that he wants to build an authoritarian, illiberal world order based on traditional spheres of influence and agreements with other illiberal leaders. The only role that the European Union plays in his script is an obstacle that must be pushed aside.
warns that the European Union has no place in Donald Trump’s illiberal worldview.
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NEW YORK – Die gängige Meinung nach den jüngsten Angriffen Israels auf iranische Militäreinrichtungen in Vergeltung für den iranischen Raketenangriff auf Israel besagt, dass das Risiko einer weiteren Eskalation eingedämmt wurde. Erste Äußerungen des Obersten Führers der Islamischen Republik deuteten darauf hin, dass der Iran nicht weiter reagieren würde, und die Finanzmärkte schienen dem zuzustimmen, da die Ölpreise unmittelbar nach den israelischen Angriffen um 5 % fielen (auch wenn sie nach neuen kriegerischen Äußerungen einiger iranischer Militärkommandeure wieder etwas gestiegen sind).
Doch dürfte die gängige Meinung falsch sein. Israels Einschätzung der vom Iran ausgehenden Bedrohung hat sich in den letzten Monaten drastisch geändert. Nicht nur die Ansichten von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und seinen rechten Verbündeten haben sich verhärtet; auch führende Vertreter der oppositionellen Parteien der Mitte und der gemäßigten Linken – wie Benny Gantz und Yair Lapid – argumentieren, dass Israel über seine jüngsten Angriffe hinausgehen sollte.
Egal, ob man der Einschätzung Israels zustimmt oder nicht, besteht dort inzwischen ein Konsens, dass das iranische Regime eine unmittelbare, eindeutige und gegenwärtige Gefahr darstellt. Angesichts der fortdauernden Angriffe auf Israel durch iranische Stellvertreterorganisationen – Hamas, Hisbollah, die Huthis und schiitische Milizen im Irak und in Syrien – ist die israelische Führung zu dem Schluss gekommen, dass sie das Problem an der Wurzel packen muss. Das könnte bedeuten, iranische Atomanlagen ins Visier zu nehmen und die oberste militärische und politische Führung des Regimes auszuschalten, so wie es Israel bereits gegenüber der Hamas und der Hisbollah getan hat. Durch Ausschaltung der obersten Führung der Hisbollah und Zerstörung eines Großteils ihrer Offensivkapazitäten haben die Israelis das Abschreckungspotenzial des Iran gegenüber Israel deutlich reduziert.
Aufgrund dieser radikalen Veränderung des relativen Kräfteverhältnisses hat der Iran nur noch eine einzige wirksame Option, um Israel abzuschrecken, nachdem selbst seine Offensivraketen und sonstigen Waffen keinen nennenswerten Schaden mehr anrichten konnten: den Versuch, seine Atomwaffenfähigkeit zu entwickeln. Da Israel aber einen nuklear bewaffneten Iran als existenzielle Bedrohung ansieht, hätte es keine andere Möglichkeit, als die iranischen Nuklearanlagen (sowie die iranische Führungsspitze) anzugreifen, bevor der Iran eine brauchbare Waffe baut.
Weitere israelische Luftangriffe sind sehr wahrscheinlich, unabhängig davon, wie viel Zurückhaltung der Iran zeigt. Ein Sieg Donald Trumps bei den US-Präsidentschaftswahlen könnte Israel zwar sehr viel deutlicher grünes Licht für ein Vorgehen gegen den Iran geben, doch auch ein Sieg von Kamala Harris würde Israel womöglich nicht davon abhalten, Maßnahmen gegen etwas zu ergreifen, das es als existenzielle Bedrohung empfindet.
Sollte Israel beginnen, seine Angriffe auf den Iran – womöglich im Anschluss an neue iranische Angriffe auf Israel – schrittweise zu verstärken, würde jede US-Regierung dies unweigerlich weiter unterstützen, entweder direkt oder indirekt. Ob Israel in der Lage ist, den größten Teil des iranischen Atomprogramms zu zerstören oder einen Regimewechsel im Iran herbeizuführen, ist dabei irrelevant; selbst eine begrenzte Beschädigung der iranischen Atomanlagen könnte die nuklearen Ambitionen des Landes um einige Jahre zurückwerfen und die von Israel gewünschte Abschreckung schaffen.
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Steil steigende Ölpreise wären eine Katastrophe für die Weltwirtschaft und das Wohlergehen von Milliarden von Menschen, und die politischen Entscheidungsträger sollten über Maßnahmen nachdenken, die diesen Schlag abmildern. Es wäre hilfreich, wenn ein größerer Konflikt so kurz wie möglich wäre. Israel müsste den Iran mit äußerster Härte und Präzision angreifen, und nicht über viele Monate hinweg. Minenräumboote (wie Japan sie betreibt) müssten schnell eingesetzt werden, um den Golf schnellstmöglich zu räumen.
Darüber hinaus müssten die USA Saudi-Arabien mit fortschrittlichen Verteidigungstechnologien – z. B. zusätzlichen Patriot-Raketenabwehrsystemen – ausstatten, um das Risiko zu minimieren, dass der Iran die saudischen Ölförder- und -liefereinrichtungen zerstört. Und das Königreich muss seine Ölproduktion und den Export seiner Überkapazitäten massiv steigern, um einen möglichen globalen Preisanstieg zu verringern, während die USA und andere Mächte ihre strategischen Ölreserven nutzen sollten, um die Auswirkungen weiter zu dämpfen.
Die Regierungen der hochentwickelten Volkswirtschaften und der Schwellenländer können zudem vorübergehende steuerliche Subventionen für Energieverbraucher einführen, wie sie nach dem Preisanstieg im Gefolge des russischen Einmarschs in der Ukraine 2022 umgesetzt wurden. Und die Notenbanken können auf jeden Stagflationsschock reagieren, indem sie die Leitzinsen konstant halten oder sogar senken. Da die Inflationserwartungen (anders als in den 1970er Jahren) gut verankert sind, dürfen die Notenbanken nicht überreagieren, indem sie als Reaktion auf einen Schock, der sich als vorübergehend erweisen (und etwa ein paar Monate dauern) dürfte, ihre Geldpolitik straffen.
Da ein umfassender israelischer Angriff auf den Iran sehr riskant wäre, würde eine Harris-Regierung wahrscheinlich dringend davon abraten. Abgesehen von den weltweiten wirtschaftlichen und finanziellen Folgen würde ein Scheitern bei der Zerstörung der iranischen Atomanlagen das Regime nur in seiner Entscheidung zur Entwicklung einer Waffe bestärken.
Ein Erfolg hingegen könnte erhebliche Vorteile mit sich bringen. Das iranische Regime – seit langem eine Quelle großer Instabilität im Nahen Osten – würde stark geschwächt, und eine starke Schwächung des Iran schwächt auch dessen Stellvertreterorganisationen in der Region. In der Tat wäre eine Volksrevolution im Iran nach groß angelegten israelischen Angriffen nicht auszuschließen. Das Regime ist schon jetzt schwach, unpopulär und wird von den meisten Iranern verabscheut. Sein Sturz könnte die Voraussetzungen für einen Waffenstillstand im Gazastreifen, eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien und irgendwann auch die Wiederaufnahme von Gesprächen über eine Zweistaatenlösung für Israel und Palästina verbessern.
Ein israelischer Angriff auf den Iran ist also eine hochriskante Strategie mit hohem potenziellen Nutzen, die entweder zu einer globalen wirtschaftlichen Katastrophe oder einer Neugestaltung des Nahen Ostens zum Besseren führen könnte. So sehen es jedenfalls die Israelis, und weitere iranische Provokationen gegen Israel sind wahrscheinlich. Unabhängig davon, ob man die israelische Einschätzung teilt, ist eine Eskalation des Konflikts sehr wahrscheinlich.
Aus dem Englischen von Jan Doolan