krueger80_PUNIT PARANJPEAFP via Getty Images_india PUNIT PARANJPE/AFP via Getty Images

Kann Indien bis Mitte des Jahrhunderts eine entwickelte Volkswirtschaft werden?

WASHINGTON, D.C. – Auf einer Wirtschaftskonferenz in den frühen 1960er Jahren begann ein Vortragender seine Präsentation über Entwicklung anhand des Beispiels Indien. Bevor er fortfahren konnte, unterbrach ihn ein Ökonom und fragte: „Welches andere Land auf der Welt ist so wie Indien?“ Im Raum wurde es still. Bis heute ist diese Frage unbeantwortet.

Vor einigen Monaten kündigte Premierminister Narendra Modi an, dass Indien bis 2047, also 100 Jahre nach seiner Unabhängigkeit vom britischen Empire, den Status eines entwickelten Landes erreichen will. Dieses ehrgeizige Ziel, das die indische Wirtschaft verändern und die gesamte Weltwirtschaft neu gestalten könnte, hat für große Begeisterung gesorgt.

Dieses Ziel zu erreichen, wird allerdings kein einfaches Unterfangen. Konservativen Schätzungen zufolge müsste das Pro-Kopf-Einkommen Indiens jedes Jahr um 3,5 Prozentpunkte schneller wachsen als der entsprechende chinesische Wert, um Modis Ziel im Jahr 2047 zu erreichen. Indien hat in den letzten Jahren zwar ein solides jährliches Wachstum von 6–8 Prozent verzeichnet, doch zeigt die Wirtschaft bereits Anzeichen einer Verlangsamung. Selbst wenn eine derartige Entwicklung abgewendet werden kann, wird es schwierig werden, diese Wachstumsdynamik in den nächsten zwei Jahrzehnten aufrechtzuerhalten.

Indien ist ein Land der Extreme. Das Land verfügt über eine florierende Softwareindustrie und sein biometrisches Identifikationssystem Aadhaar hat es der Regierung ermöglicht, öffentliche Dienstleistungen für die größte Bevölkerung der Welt zu organisieren. Und Indien ist die Heimat von Weltklasse-Universitäten, insbesondere bei den Instituten für Technologie und Management.

Wenn es jedoch um die Verlagerung der Beschäftigung von ländlichen in städtische Gebiete geht, hinkt Indien den meisten Entwicklungsländern hinterher, wodurch die Ungleichheit verschärft wird. Zwar gibt es im Land 167 Milliardäre, doch leben immer noch mehr als 129 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Diese Ungleichheiten erstrecken sich auch auf das Bildungssystem, in dem mehr als die Hälfte der Schüler in der fünften Schulstufe Schwierigkeiten hat, auf dem Niveau von Zweitklässlern zu lesen.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs waren China und Indien zwei verarmte Länder mit großen Bevölkerungen. Noch in den 1980er Jahren wiesen sie einen nahezu identischen Lebensstandard auf. Chinas Planwirtschaft beruhte auf dem staatlichen Besitz praktisch aller Produktionsmittel, während Indiens Modell Privateigentum mit staatlicher Kontrolle über Schlüsselindustrien verband.

Secure your copy of PS Quarterly: The Year Ahead 2025
PS_YA25-Onsite_1333x1000

Secure your copy of PS Quarterly: The Year Ahead 2025

Our annual flagship magazine, PS Quarterly: The Year Ahead 2025, has arrived. To gain digital access to all of the magazine’s content, and receive your print copy, subscribe to PS Digital Plus now.

Subscribe Now

Keines der beiden Systeme führte zu positiven Ergebnissen. In den frühen 1980er Jahren begann China mit der Umsetzung umfassender Wirtschaftsreformen und leitete damit eine Ära spektakulären Wachstums ein. Indien folgte ein Jahrzehnt später, ausgelöst durch eine Währungskrise. Doch obwohl sich das BIP-Wachstum des Landes beschleunigte, konnte Indien mit dem rasanten Tempo des wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas nie mithalten. In seinem jüngsten World Economic Outlook schätzt der Internationale Währungsfonds das Pro-Kopf-Einkommen Indiens auf 2.730 US-Dollar, verglichen mit 13.140 US-Dollar in China.

Trotz der aktuellen wirtschaftlichen Herausforderungen Chinas gehen die meisten Wirtschaftsexperten davon aus, dass das Land bis 2040 den Status einer entwickelten Volkswirtschaft erreichen wird. Damit Indien dies ebenfalls gelingt, gilt es, mehrere eklatante wirtschaftliche Schwachstellen zu beseitigen. Da sich das Reformtempo in den letzten zehn Jahren jedoch verlangsamt hat, ist unklar, ob das Land den politischen Willen aufbringen kann, die notwendigen Veränderungen voranzutreiben, um das für 2047 gesetzte Ziel zu erreichen.

Vier Bereiche erfordern dringend Aufmerksamkeit: Arbeit, Bildung, Handel und Regulierung. Eine besonders große politische Herausforderung stellen dabei Indiens restriktive Arbeitsgesetze dar, die Kündigungen äußerst schwierig machen. Das Industriewachstum verläuft relativ schleppend, sodass ein Großteil der Beschäftigten in wenig produktiven Jobs auf dem Land festsitzt. Während 46 Prozent der indischen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft arbeiten, ist der Anteil der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe zwischen 2023 und 2024 von 12 auf 11 Prozent gesunken.

Darüber hinaus sorgen Indiens strenge Vorschriften in den Bereichen Überstundenbezahlung, Lehrlingsausbildung sowie Gesundheitsversorgung und sonstige Leistungen dafür, dass die Kosten für Arbeitgeber erheblich sind. Mächtige Gewerkschaften schrecken Unternehmen zusätzlich davon ab, ungelernte Arbeitskräfte einzustellen, weshalb Arbeitgeber eher in Investitionsgüter investieren, als ihre Belegschaft zu erweitern.

Um den Anforderungen der heutigen Weltwirtschaft gerecht zu werden, muss Indien sein Bildungssystem reformieren. Obwohl die Einschulungsquoten deutlich gestiegen sind, reicht die Qualität der Bildung – insbesondere in der Primar- und Sekundarstufe – nicht aus, um produktive Arbeitskräfte heranzubilden.

Ein wesentlicher Motor für die früheren Wirtschaftsreformen Indiens war die Lockerung der strengen Kontrollen des Außenhandels und der Kapitalströme. Doch unter Modis „Made in India“-Politik ist das Land zum Protektionismus zurückgekehrt, hat Zölle und andere Einfuhrbeschränkungen eingeführt, während die inländische Produktion lebenswichtiger Güter subventioniert wird.

Diese protektionistische Wende wirft einen Schatten auf Indiens Wachstumsaussichten. Ohne rasche Expansion arbeitsintensiver Industriezweige und Exporte ist es zweifelhaft, ob das Land eine Wachstumsrate aufrechterhalten kann, die erforderlich ist, um bis 2047 den Status eines entwickelten Landes zu erreichen.

Ein weiteres großes Problem stellen bürokratische Hürden und aufwändige Genehmigungsverfahren dar, die die Wirtschaftstätigkeit zunehmend behindern. Frühere Bemühungen zur Straffung von Vorschriften haben zu erheblichen Verbesserungen geführt und das Wachstum angekurbelt, aber um Modis ehrgeizige Ziele zu erreichen, bedarf es einer neuen Welle mutiger Strukturreformen.

Der Zustand der Weltwirtschaft im Jahr 2050 wird zum Teil davon abhängen, wie schnell und effektiv Indien diese Veränderungen umsetzt. Mit der richtigen Politik könnte das Land bis 2047 den Status eines Landes mit hohem Einkommen erreichen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass Indien ein Land mittleren Einkommens mit geringer Produktivität und trägem Wachstum bleibt.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/gOIkjzyde