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Die politische Anmaßung der EZB

FRANKFURT – Als Mitte Juni die Zinsen für italienische Staatsanleihen gegenüber denen Deutschlands um rund 250 Basispunkte stiegen, erachtete es die EZB für erforderlich, eine Sondersitzung des EZB-Rates einzuberufen um anzukündigen, man wolle die Arbeit an einem Anti-Fragmentierungs-Instrument beschleunigen. Auf der letzten Ratssitzung wurde dann das Ergebnis bekanntgegeben und ein neues Instrument angenommen. Das Transmission-Protection-Instrument (TPI) soll sicherstellen, "dass die Transmission des geldpolitischen Kurses in allen Ländern des Euroraums reibungslos erfolgt... Das TPI wird unser Instrumentarium ergänzen und kann aktiviert werden, um ungerechtfertigten, ungeordneten Marktdynamiken entgegenzuwirken, die eine ernsthafte Bedrohung für die Transmission der Geldpolitik im Euroraum darstellen."

Das TPI ist ein ehrgeiziges und für die EZB riskantes Unterfangen, zu unterscheiden, inwieweit die Spreads – also die Zinsunterschiede zwischen den Anleihen einzelner Länder – Differenzen in den Fundamentaldaten widerspiegeln oder eine darüber hinausgehende destabilisierenden Marktdynamik. Dieser Unterscheidung wird am Ende immer ein politisches Element innewohnen, das vom Markt getestet werden wird. Das wird unvermeidlich zu stärkeren Interventionen der Notenbank führen als es nach den wirtschaftlichen und finanziellen Bedingungen des betreffenden Landes gerechtfertigt erscheint.

Um zu unterscheiden, ob Risikoprämien am Markt durch die Fundamentaldaten gerechtfertigt sind, muss sich der EZB-Rat am Ende eine Meinung darüber bilden, ob die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik eines Landes als solide einzuschätzen ist. Es ist nicht die Aufgabe einer unabhängigen Notenbank, ein eingehendes Urteil über die künftige Politik einer Regierung abzugeben, oder die Finanzierungskosten eines Landes mit möglicherweise weitreichenden politischen Konsequenzen zu beeinflussen.

Das 2012 beschlossene Outright Monetary Transactions (OMT) Programm der EZB stößt auf denselben grundsätzlichen Einwand: Den Zusammenhalt des Euroraums zu gewährleisten ist in erster Linie eine Frage der nationalen Politik, die für die Konformität ihrer Maßnahmen mit den Bedingungen einer Währungsunion verantwortlich ist. Den Zusammenhalt in der Krise zu sichern, ist Aufgabe der Mitgliedstaaten und nicht der Notenbank.

OMT hat jedoch wichtige Vorteile im Vergleich zu TPI. Das betrifft vor allem die Bedingungen, unter denen ein Land Unterstützung erhalten kann. Konditionalität ist eine fundamentale Voraussetzung um zu verhindern, dass die Grenze zur verbotenen monetären Finanzierung der Staatsausgaben überschritten wird. Der damalige EZB Präsident Mario Draghi hat in seiner Rede vom 6. Mai 2013 erklärt (Übersetzung O.I):

"Die anleihebegebenden Länder, die um die Aktivierung von OMTs ersuchen, stimmen, im Zusammenwirken mit den europäischen Autoritäten, und, wenn möglich, mit dem Internationalen Währungsfonds, über ein Reformprogramm überein, das die makroökonomischen und strukturellen Schwächen angeht. Das ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Die Konditionalität, die mit dem Programm verbunden ist, dem die Regierungen und die europäischen Autoritäten zugestimmt haben, ist ein fundamentales Element, um die geldpolitische Unabhängigkeit zu gewährleisten. Es ist wichtig, die EZB mit einer angemessenen Versicherung zu versehen, dass die Unterstützung für die Preise der nationalen Anleihen nicht zu finanziellen Subventionen für in der mittleren Frist nicht nachhaltige nationale Politiken mutieren."

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Die Voraussetzungen für den Einsatz von TPI bleiben weit hinter den Bedingungen zurück, die Draghi für OMT verlangt hat. Das bringt die EZB in eine gefährliche Situation. Je mehr sie selbst über die Qualifikation für den Einsatz von TPI entscheidet, desto mehr spielt sie eine Rolle, die für die gewählten Regierungen reserviert ist. Darüber hinaus werden die Märkte, und die Mitgliedsländer mit hoher Staatsschuld, ihre Erwartungen anpassen und antizipieren, dass TPI einen weiteren Schuldenaufbau erlauben wird ohne einen angemessenen Anstieg der Risikoprämien und damit der Spreads.

Die EZB hat diesen radikalen Schritt gemacht ohne jeden Nachweis, dass der Anstieg der Spreads Mitte Juni nicht angemessen war. Die EZB hat erklärt, der EZB-Rat werde eine kumulative Liste von Kriterien heranziehen, um zu beurteilen, ob das Land, in dem das Eurosystems erwägt Anleihen im Rahmen von TPI zu kaufen, solide und nachhaltige fiskal- und makroökonomische Politik verfolgen wird. Das bedeutet eine gefährliche Abweichung von den Bedingungen für den Einsatz von OMT.

OMT setzt strikte und effektive Konditionalität voraus, die eine detaillierte fiskalische und strukturelle Verpflichtung für das betreffende Land verlangt sowie die Verpflichtungen der anderen Mitgliedstaaten zur finanziellen Unterstützung über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Damit ein Land finanzielle Hilfe über OMT erhält, müssen der ESM und die Europäische Kommission ein Memorandum of Understanding unterzeichnen mit einem detaillierten Anpassungsprogramm, das die Schuldenlast nachhaltig macht. Der entscheidende Punkt in diesem Vorgehen liegt darin, dass alle Mitgliedsländer, der ESM und die Kommission ein Risiko eingehen, und zwar finanziell und für die eigene Reputation.

Im Gegensatz dazu verlangt der Einsatz von TPI kein ESM Anpassungsprogramm, und setzt die EZB damit einem viel größeren Risiko aus – finanziell und für die Reputation – als das jemals für OMT galt. Dazu kommt noch: die staatliche Verschuldung ist heute viel höher und die wirtschaftlichen Aussichten sind deutlich schwächer. Unter diesen Umständen ist es schwer zu verstehen, wie die substanziell viel schwächeren Bedingungen für den Einsatz von TPI gerechtfertigt werden können.

TPI droht, fundamentale Errungenschaften des letzten Jahrzehnts aufzuheben. Es gibt gute Gründe, warum der ESM als zentrale Institution errichtet wurde, um mit den fiskalischen Problemen einzelner Länder umzugehen, und warum der Einsatz von Hilfen die Zustimmung aller Parlamente der Mitgliedstaaten verlangt. Es bestand Übereinstimmung, dass die EZB nicht eine Rolle spielen sollte, die den Politikern, die ihren Wählern gegenüber verantwortlich sind, vorbehalten sein muss.

Diese Verteilung der Verantwortung ist umso wichtiger, als die Inflation inzwischen rund viermal höher ist als es dem Ziel der EZB entspricht. Die wichtigste Aufgabe der EZB ist zu sichern, dass die Inflationserwartungen fest auf dem Niveau des Ziels der EZB verankert sind, so dass die gegenwärtig hohe Inflation sich nicht verfestigt. Dafür bedarf es einer entschlossenen Geldpolitik. Die EZB darf keinen Zweifel daran offenlassen, dass sie nicht voll und ganz auf ihr primäres Ziel der Preisstabilität fokussiert ist. TPI als ein ökonomisch problematisches und politisch fragwürdiges Projekt lässt Zweifel an dieser Entschlossenheit aufkommen.

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