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Xi Jinpings radioaktiver Freund

LONDON – Dass Wladimir Putin in der Ukraine immer wieder scheitert, stellt sein strategisches Bündnis mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping auf eine harte Probe. Während Putin immer verzweifelter wird, muss Xi endlich erkennen, wie sehr seine „Freundschaft ohne Grenzen“ mit dem russischen Präsidenten die wirtschaftliche Gesundheit Chinas, die weltweite Stabilität und seine eigenen geopolitischen Ziele bedroht.

Ob Putin nun im letzten Monat mit seiner Drohung, in der Ukraine taktische Nuklearwaffen einzusetzen, geblufft hat oder nicht: Will Xi als verantwortungsvoller Staatschef gelten, muss er das Schlimmste befürchten. Immerhin ist die Möglichkeit eines Nuklearschlags, um russisches Gebiet gegen eine existenzielle Bedrohung zu verteidigen, in der russischen Militärdoktrin ausdrücklich vorgesehen. Russlands illegale Annektierung der besetzten ukrainischen Regionen Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja könnte also ein Anlass dafür sein.

Xi, der sich Ende dieses Monats auf dem 20. Nationalkongress der Kommunistischen Partei Chinas wahrscheinlich eine beispiellose dritte Amtszeit als chinesischer Staatschef sichern wird, muss nun alles daran setzen, einen Dritten Weltkrieg zu verhindern. Seit dem Einsatz der US-amerikanischen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 könnten also in der Ukraine erstmals wieder Nuklearwaffen zum Einsatz kommen. Dies würde eine katastrophale globale Krise auslösen und Xis Krönungszeremonie massiv stören.

Als Xi und Putin im Februar bei den Olympischen Winterspielen in Peking das Sino-Russische Abkommen zur Zusammenarbeit unterzeichneten, muss der Plan, die Ukraine zu erobern, wie ein Spaziergang gewirkt haben: ein schneller Sturz der ukrainischen Führung durch die Russen, der die USA und die NATO blamiert hätte. Außerdem mag Xi gedacht haben, ein Stellvertreterkrieg würde die Aufmerksamkeit der USA von ihrer Rivalität zu China ablenken.

Doch dann schlug die Ukraine zurück und brachte die unzähligen Schwächen des russischen Militärs ans Tageslicht. Letzteres hat sich nun nach einer eindrucksvollen ukrainischen Gegenoffensive aus der Charkiw-Region im Nordosten zurückgezogen – und erleidet in der Nähe von Cherson im Süden schwere Verluste.

Als Xi beim jüngsten Gipfel der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit im usbekischen Samarkand Putin traf, hat er mit ziemlicher Sicherheit seine Verstimmung über die russischen Fehlschläge geäußert. Offiziell hat Xi die Ukraine überhaupt nicht erwähnt, aber Putin hat Chinas „Fragen und Sorgen“ über den Krieg öffentlich zugegeben – ein seltenes Eingeständnis der Spannungen zwischen den beiden Ländern. Xis offizielles Schweigen stand im massiven Gegensatz zur Reaktion des indischen Ministerpräsidenten Narendra Modi, der – in einer bemerkenswerten Kehrtwende – Putin öffentlich getadelt hat.

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Trotz Xis öffentlicher Zurückhaltung ist es schwer zu glauben, dass er sich nicht fragt, ob er, als er sein politisches Schicksal an einen so leichtsinnigen Verbündeten knüpfte, die richtige Entscheidung getroffen hat. Putins „Teilmobilisierung“ von 300.000 Russen für den Kampf in der Ukraine hat im ganzen Land Proteste ausgelöst und über 200.000 junge Männer in die Flucht getrieben. Und die Qualität von Putins neuen Rekruten – zu denen auch Strafgefangene gehören – wird wahrscheinlich nicht dazu beitragen, die russischen Kriegsbemühungen zu unterstützen oder Xis Sorgen zu lindern.

Angesichts dessen, dass die Moral der russischen Truppen bereits am Boden ist, könnte ein Zustrom mutloser und schlecht ausgebildeter Wehrpflichtiger die Auflösung von Putins Militär und den Zusammenbruch seines Regimes noch beschleunigen – ähnlich wie die schwache Führung des Zaren Nikolaus II im Ersten Weltkrieg zum Zusammenbruch der zaristischen Armeen und zur russischen Revolution von 1917 geführt hat. Angesichts seiner direkten Appelle an die russischen Soldaten, entweder aufzugeben oder zu sterben, scheint der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskyj den verheerenden Zustand des russischen Militärs besser erkannt zu haben als Putin selbst.

Der Sinn eines Stellvertreterkriegs besteht darin, seinen Feind zu schwächen, aber für Xis Zwecke hat Putin genau das Gegenteil erreicht. Die NATO ist heute stärker als je zuvor seit dem Ende des Kalten Krieges: Bisher neutrale Länder wie Schweden und Finnland bemühen sich um einen Beitritt, und asiatische Staaten wie Japan, Südkorea – und zunehmend auch Indien – äußern ihre Unterstützung für die amerikanische Ukraine-Politik.

Statt China zu helfen, sich als Gegengewicht zur globalen US-Hegemonie zu positionieren, hat sich Russland als so schwach und korrupt erwiesen, dass es nicht einmal ein mittelgroßes Land besiegen kann. Angesichts dessen, dass Putin nun direkte Befehle an russische Kommandeure erteilt, muss das chinesische Militärbündnis mit Russland für Xi ziemlich wertlos wirken.

Auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass Putin in der Ukraine eine Nuklearwaffe einsetzt, gering erscheint, kann es nicht völlig ausgeschlossen werden. Also müssen die chinesischen Politiker einzuschätzen versuchen, wie die USA und die NATO reagieren werden, falls Putin seine Drohung wahr macht. Angesichts der kompromisslosen – wenn auch immer noch zweideutigen – Aussagen von US-Präsident Joe Biden kann man sicher annehmen, dass die internationale wirtschaftliche und militärische Reaktion noch viel härter ausfallen würde als die bereits gegen Russland bestehenden Sanktionen.

Sollte Putin die ukrainischen Gebiete, die er illegal annektiert hat, tatsächlich mit taktischen Nuklearwaffen „verteidigen“, könnte er damit eine Horror-Büchse der Pandora öffnen. Bereits jetzt hat sein Krieg beispielsweise die ukrainischen Atomkraftwerke in erhebliches Chaos gestürzt: Neben anderen Sorgen über ihren Betrieb kann nicht mehr vorausgesetzt werden, dass die verbrauchten Brennstäbe während der Kämpfe dort immer sicher aufbewahrt wurden. Dies eröffnet die erschreckende Möglichkeit, dass irgendein verrückter Partisan aus Rache eine „schmutzige Bombe“ bauen könnte.

Putins Annektierung könnte auch die „Ein-China-Politik“ hinsichtlich Taiwan untergraben, die vom größten Teil der Welt akzeptiert wird. Einige osteuropäische Länder äußern bereits Zweifel an der Klugheit dieser Politik. Sollte Xi, der das Prinzip territorialer Integrität immer standhaft verteidigt hat, Putins Besatzung stillschweigend akzeptieren, könnten andere Staaten zu dem Schluss kommen, die „Ein-China-Politik“ sei aufgrund von Xis Scheinheiligkeit nicht mehr gerechtfertigt.

Seit seinem Amtsantritt vor zehn Jahren hat Xi immer wieder die Sorge geäußert, China könnte derselben Art politischer und wirtschaftlicher Auflösung zum Opfer fallen, die zum Zusammenbruch der Sowjetunion geführt hat. Putins momentanes Dilemma sollte als weiteres abschreckendes Beispiel dienen. Der Gedanke an ein Regime, das so marode ist, dass es von innen her zusammenfällt, muss Chinas Präsidenten fast so sehr umtreiben wie die Drohung eines nuklearen Krieges.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

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