soros122_ARIS MESSINISAFP via Getty Images_ukrainewar Aris Messinis/AFP via Getty Images

Kann die Demokratie die Polycrisis überleben?

NEW YORK: Wir leben in schwierigen Zeiten. Zu viel passiert zu schnell. Die Menschen sind verwirrt. Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze von der Columbia University hat sogar ein Wort dafür geprägt: Er bezeichnet es als „Polycrisis“.

Die Polycrisis hat viele Quellen. Meiner Meinung nach ist die Hauptquelle der die Welt heute heimsuchenden Polycrisis die künstliche Intelligenz. Als Nächstes kommt der Klimawandel, und für den dritten Platz qualifiziert sich die russische Invasion der Ukraine. Die Liste ist viel länger, aber ich werde mich auf diese drei konzentrieren. Das sollte helfen, die Verwirrung zu verringern.

Künstliche Intelligenz

Als Microsoft durch ein verbundenes Unternehmen namens OpenAI der Öffentlichkeit vor kurzem kostenlos ChatGPT zur Verfügung stellte, hat das die Welt erschüttert. Das war im November 2022. ChatGPT stellte eine existentielle Bedrohung für Googles Geschäftsmodell dar. Google legte sich daraufhin mächtig ins Zeug, um schnellstmöglich ein Konkurrenzprodukt herauszubringen.

Wenig später schied der allgemein als Pate der KI betrachtete Geoffrey Hinton bei Google aus, um sich offen zu den von der neuen Technologie ausgehenden Risiken äußern zu können. Anders als früher vertrat er dabei eine sehr düstere Sichtweise bezüglich der KI. Er sagte, sie könne unsere Zivilisation zerstören.

Hinton leistete Pionierarbeit bei der Entwicklung neuraler Netze, die Sprache verstehen und generieren können und durch Analyse von Daten neue Fertigkeiten erlernen können. Mit wachsender Datenmenge wuchsen auch die Fähigkeiten sogenannter großer KI-Sprachmodelle.

Dies machte großen Eindruck auf Hinton. „Womöglich ist, was in diesen Systemen abläuft, sogar deutlich besser als was im Gehirn abläuft“, sagte er. Und mit wachsender Leistungsstärke würden diese Systeme, so behauptete er, zugleich gefährlicher. Insbesondere warnte er vor vollautonomen Waffensystemen – er bezeichnete sie als Killerroboter.

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„Wir haben komplettes Neuland betreten. Wir sind imstande, Maschinen zu bauen, die stärker sind als wir, aber dabei haben wir noch die Kontrolle. Was aber, wenn wir Maschinen entwickeln, die intelligenter sind als wir? … Die KI wird zwischen fünf und 20 Jahren brauchen, um die menschliche Intelligenz zu übertreffen.“ Und „sie wird schnell erkennen, dass sie ihre Ziele besser erreicht, wenn sie mächtiger wird.“

Hinton Äußerungen haben mich sehr beeindruckt. Tatsächlich erinnert mich die KI an Goethes Gedicht „Der Zauberlehrling“. Der Lehrling studiert Zauberei, doch versteht nicht völlig, was sein Meister ihn lehrt. Als der Meister aus dem Haus ist, gibt er dem Besen den magischen Befehl, Wasser vom Fluss zu holen, um ihm ein Bad einzufüllen. Der Besen gehorcht, doch als das Bad voll ist, kann der Zauberlehrling ihn nicht abhalten, immer mehr Wasser herbeizuschleppen, bis das ganze Haus überflutet ist.

Ich wuchs auf, bevor die KI erfunden wurde. Das machte mich zu jemandem, der große Achtung vor der Realität hat. Ich erkannte in relativ jungen Jahren, wie schwierig es ist, die Welt, in die ich hineingeboren wurde, zu verstehen, und suchte in der Realität nach moralischer Anleitung.

Wir Menschen sind innerhalb der Welt, in der wir leben, sowohl Teilnehmer als auch Beobachter. Als Teilnehmer wollen wir die Welt zu unseren Gunsten verändern; als Beobachter wollen wir die Realität begreifen, so wie sie ist. Diese beiden Ziele kollidieren. Ich betrachte dies als wichtige Erkenntnis, die mir ermöglicht, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden.

Die KI hat dieses simple Schema zerstört, denn sie hat mit der Realität absolut nichts zu tun. Sie schafft ihre eigene Realität, und wenn die künstliche Realität der realen Welt nicht entspricht – was ziemlich oft passiert –, wird Letztere als Halluzination verworfen.

Das machte mich fast instinktiv zum Gegner der KI, und ich stimme den Experten, die argumentieren, dass sie  reguliert werden muss, aus vollem Herzen zu. Doch müssen die Regeln global durchsetzbar sein, weil der Anreiz, dabei zu betrügen, zu groß ist; wer die Regeln umgeht, erzielt einen unfairen Vorteil.

Unglücklicherweise sind globale Regeln unerreichbar, weil die Welt von einem Konflikt zwischen zwei einander diametral gegenüberstehenden Regierungssystemen bestimmt wird. Diese haben radikal verschiedene Ansichten darüber, was reguliert werden muss und warum.

Ich bezeichne diese beiden Regierungssysteme als  offene und geschlossene Gesellschaften. Ich definiere den Unterschied zwischen beiden wie folgt: In einer offenen Gesellschaft besteht die Rolle des Staates darin, die Freiheit des Individuums zu verteidigen; in einer geschlossenen Gesellschaft ist es Rolle des Individuums, den Interessen der Herrschenden zu dienen.

Die KI entwickelt sich unglaublich schnell, und es ist für die normale menschliche Intelligenz unmöglich, sie völlig zu verstehen. Niemand kann vorhersagen, wohin sie uns führen wird. Eins jedoch ist sicher: Die KI hilft geschlossenen Gesellschaften und stellt eine tödliche Bedrohung für offene Gesellschaften dar. Das liegt daran, dass die KI besonders gut darin ist, Kontrollinstrumente hervorzubringen, die geschlossenen Gesellschaften bei der Überwachung ihrer Untertanen helfen.

Darum lehne ich die KI instinktiv ab. Doch wie man sie stoppen kann, weiß ich nicht. Auch sonst weiß das derzeit keiner. Die meisten ihrer Entwickler allerdings sind sich der Notwendigkeit bewusst, sie zu regulieren. Gleiches gilt für den US-Kongress und die Regierung von Präsident Joe Biden. Die KI jedoch bewegt sich viel schneller als staatliche Behörden. Die Regierung Biden hat einige Exekutivmaßnahmen ergriffen, doch wird sich der Kongress schwertun, so etwas wie eine „KI-Grundrechtecharta“ zu verabschieden.

Es gibt jedoch ein Problem, das nicht warten kann. In den USA – und höchstwahrscheinlich auch im Vereinigten Königreich – finden 2024 Parlamentswahlen statt, und die KI wird dabei zweifellos eine wichtige Rolle spielen. Und zwar eine, die alles andere als ungefährlich sein dürfte. Die KI ist sehr gut darin, Falschinformationen und „Deep Fakes“ zu produzieren, und es wird viele böswillige Akteure geben. Was können wir dagegen tun? Ich weiß die Antwort nicht, doch ich hoffe, das Thema wird die Aufmerksamkeit erhalten, die es verdient.

Klimawandel

Das zweite Element der Polycrisis ist der Klimawandel. Das Weltklimasystem wurde durch zunehmende menschliche Eingriffe destabilisiert, insbesondere die umfassende Freisetzung von Treibhausgasen wie Kohlendioxid und Methan. Das Pariser Abkommen von 2015 legte ein Ziel von 1,5 °C über vorindustriellem Niveau fest. Dies wird nun überschritten werden; trotz aller Bemühungen zur Bekämpfung des Klimawandels beschleunigt sich das Tempo der Erwärmung sogar.

Zwei hochangesehene Klimawissenschaftler, der frühere wissenschaftliche Chefberater der britischen Regierung David King und Johan Rockström vom Potsdam-Institut, haben gewarnt, dass dies Kipp-Punkte auslösen und zu einem Zusammenbruch irdischen Lebens führen könnte.

Der Weltklimarat hat erklärt, dass die derzeitige Klimapolitik zu einer Erwärmung der Erde um zwischen 2,5 °C und 2,7 °C bis 2100 führen wird. Laut Aussage der Wissenschaftler wäre das verheerend: Es wäre die wärmste Temperatur auf der Erde seit vier Millionen Jahren und würde zum völligen Abschmelzen der Eisschilde Grönlands, des Himalaya und der westlichen Antarktis führen und den Meeresspiegel um zehn Meter ansteigen lassen.

„Es gäbe einen Zusammenbruch aller großen Biome auf der Erde – des Regenwaldes, vieler Wälder in gemäßigten Zonen –; der Permafrost wird abrupt auftauen, wir werden einen völligen Zusammenbruch des Meereslebens erleben und eine Verschiebung weiter Teile der bewohnbaren Gebiete der Erde“, so Rockström.

„Über ein Drittel des Planeten um die Äquatorregionen herum wird unbewohnbar sein, weil die Schwelle für gesundes Leben, die bei etwa 30 °C liegt, überschritten wird.“

Unglücklicherweise wollen die Menschen, wenn der Klimaschutz ihre Lebensgrundlagen beeinträchtigt, diese Lebensgrundlagen schützen. In Deutschland und den Niederlanden sind die Landwirte in Aufruhr wegen der Regulierung der Stockstoffemissionen, weil diese sie hindert, Kühe zu halten. Sie haben sich organisiert, gewinnen Wahlen und erschüttern die Europäische Union.

Ich sollte auch den Wunsch der Ölgesellschaften erwähnen, weiterhin Gewinne zu machen.

Wir liegen bei der Bekämpfung des Klimawandels deutlich hinter dem Zeitplan zurück. Wir sollten alles tun, was die Klimawissenschaftler für nötig halten – die Emissionen steil und rapide senken, der Atmosphäre überschüssige Treibhausgase entziehen und wieder für Frost in der Arktis sorgen. Dazu müssen wir die Zustimmung der indigenen Gemeinschaften einholen. All dies muss schnellstmöglich passieren.

Russlands Krieg gegen die Ukraine

Dies bringt uns zur dritten Komponente der Polycrisis. Die russische Invasion der Ukraine hat die Welt auf negative Weise erschüttert; sie hat die Nahrungsmittelversorgung destabilisiert und eine starke geopolitische Neuaufstellung verursacht. Allerdings ist das bisherige Ergebnis viel besser als zu erwarten war. Die ukrainische Armee hat heroischen Widerstand geleistet und mit starker Unterstützung der USA und Europas eine Wende herbeigeführt. Die russische Armee hat sich als schlecht geführter und durch und durch korrupter Papiertiger erwiesen. Die Wagner Group, eine private Söldnerarmee, hat die Invasion eine Zeitlang gestützt, doch letztlich hat auch sie es nicht geschafft, die Ukraine zu besiegen.

Infolgedessen ist die Ukraine nun bereit, einen Gegenangriff zu starten, sobald die vom Westen versprochene Ausrüstung eintrifft. Biden hat sogar der Lieferung von Kampfflugzeugen vom Typ F-16 an die Ukraine zugestimmt.

Ich glaube, dass der Gegenangriff erfolgreich sein wird. Sein Ziel wird die Halbinsel Krim sein: die Heimatbasis der russischen Marine. Durch Zerstörung der schon jetzt beschädigten Landbrücke zu Russland könnte die Ukraine einen strategischen Aktivposten in eine strategische Schwachstelle verwandeln, denn die Krim hat kein Wasser. Wird die Landbrücke zerstört, ist die Krim zur Wasserversorgung auf die Ukraine angewiesen.

Weite Teile der Russischen Föderation sind bereits in Unruhe über das despotische Regime von Präsident Wladimir Putin, und diese Entwicklung könnte sie dazu bringen, sich komplett von ihm abzuwenden. Putins Traum eines wiederbelebten russischen Großreichs könnte in sich zusammenfallen und nicht länger eine Bedrohung für Europa und die Welt darstellen.

Das Kriegsende in der Ukraine wird eine positive Erschütterung für die Welt darstellen. Dies könnte Biden Gelegenheit bieten, die Spannungen zwischen den USA und China abzubauen. China selbst erlebt derzeit einen wirtschaftlichen Abschwung, der Präsident Xi Jinping einer Verständigung mit den USA zugeneigter machen könnte. Biden strebt keinen Regimewechsel in China an; er will lediglich den Status quo in Bezug auf Taiwan wiederzustellen.

Eine russische Niederlage in der Ukraine und eine Verringerung der chinesisch-amerikanischen Spannungen könnten den Regierungen der Welt den Spielraum bieten, sich auf die Bekämpfung des Klimawandels zu konzentrieren, der unsere Zivilisation zu zerstören droht. Doch es führt nur ein enger, gewundener Weg zu diesem Ziel. Hinter das Überleben der Demokratie in der Polycrisis ein Fragezeichen zu setzen ist daher angebracht.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

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