WARSCHAU – Die NATO sieht sich zu ihrem 70. Jahrestag den schwersten Herausforderungen seit dem Ende des Kalten Krieges vor fast drei Jahrzehnten ausgesetzt. Das Bündnis wurde durch Russlands illegale Annexion der Krim und seinen Einmarsch im Donezbecken in der Ostukraine, die beißende Kritik von US-Präsident Donald Trump und die vom Brexit befeuerte Verwandlung Großbritanniens in „Little England“ erschüttert. Trotz dieser Rückschläge hat die NATO ihr Bekenntnis zu Mittel- und Osteuropa in den letzten Jahren deutlich verstärkt. Doch muss sie noch mehr tun.
Zwar sind sich die USA und ihre europäischen NATO-Verbündeten in wichtigen Fragen wie den Verteidigungsausgaben, dem Handel, dem Klimawandel und dem Nuklearabkommen von 2015 mit dem Iran uneinig; der Generalsekretär des Bündnisses, Jens Stoltenberg, hat dies bei seinem jüngsten Besuch in Warschau eingestanden. Doch wie Stoltenberg zu Recht betonte, funktioniert die militärische Zusammenarbeit innerhalb der NATO zugleich so gut wie seit vielen Jahren nicht. Am vielleicht deutlichsten zeigt sich dieses „Stoltenberg-Paradox“ an der Weise, in der die NATO zunehmend ihre Ostflanke stärkt, darunter auch in Polen.
Stoltenberg verweist mit Recht auf die jüngsten NATO-Reformen. So hat das Bündnis z. B. eine neue schnelle Einsatztruppe, die Very High Readiness Joint Task Force, ins Leben gerufen. Darüber hinaus hat die NATO an ihrer Ostflanke eine Reihe sehr umfangreicher Manöver abgehalten, um Russland zu zeigen, dass das Bündnis seine Verpflichtungen gegenüber jedem seiner Mitgliedstaaten sehr ernst nimmt. Dies ist besonders für Polen und die Baltischen Staaten wichtig, die alle an Russland grenzen.
Auch die turnusmäßige Entsendung multinationaler NATO-Bataillone in die Länder der Ostflanke demonstriert die Entschlossenheit des Bündnisses. Diese als Enhanced Forward Presence bezeichnete Beistandsinitiative schließt die Verlagerung von amerikanischem Militärpersonal und -gerät in die Region ein.
Infolgedessen sind derzeit 4400 US-Soldaten in Polen stationiert. Dies stellt eine deutliche Ausweitung gegenüber den anfänglichen Vereinbarungen dar, die der damalige polnische Außenminister Radek Sikorski (in Bezug auf eine Abwehrraketenbasis in der Stadt Redzikowo) und ich als Verteidigungsminister (in Bezug auf einen ständigen US-Luftwaffenstützpunkt in Łask) unterzeichnet hatten.
Einen weiteren Schritt voran unternahmen die Verbündeten auf dem NATO-Gipfel in Brüssel im Juli 2018, als sie der neuen NATO-Bereitschaftsinitiative zustimmten. Diese auch als „Four Thirties“ bezeichnete Initiative legt fest, dass das Bündnis innerhalb von 30 Tagen 30 Bataillone mechanisierter Bodentruppen, 30 Flugstaffeln und 30 Schlachtschiffe zusätzlich einsatzbereit haben muss. Dies ist ein Kernaspekt der aktuellen NATO-Doktrin der „Abschreckung durch schnelle Verstärkung“.
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Und doch bleibt eine zentrale Frage unbeantwortet: Wird die Abschreckung durch die Verbündeten eine mögliche russische Aggression während dieser 30 Tage verhindern? Die bestehenden an der Ostflanke stationierten NATO-Truppen könnten hiervor keinen Schutz bieten, insbesondere wenn Russland den Suwałki-Korridor (an der polnisch-litauischen Grenze) oder einen der Baltischen Staaten besetzen sollte, bevor die Verstärkung einträfe. Das Bündnis muss mehr tun, um diese Lücke von 30 Tagen zu schließen.
Trumps Interventionen haben derweil politisch schwierigere Fragen aufgeworfen. Seine Erklärung, die NATO sei obsolet, hat viele in Europa erschüttert und war ein Geschenk an Russland. Und während Trump einen geschäftsorientierten Ansatz an den Tag legt, basiert das Bündnis auf dem bindenden Grundsatz „Alle für einen, einer für alle“. Ohne diesen würde die NATO nicht existieren. Die Entscheidung Großbritanniens zum Austritt aus der EU hat die Sorgen der Europäer weiter vertieft.
Doch sind Befürchtungen über das transatlantische Bündnis keine Entschuldigung dafür, dass Europas Politiker mit völlig unrealistischen Vorschlägen wie etwa dem einer von der NATO unabhängigen europäischen Armee hausieren gehen.
Die Idee des französischen Präsidenten Emmanuel Macron einer „strategischen Autonomie“ scheint gleichermaßen nebulös. Macron hat vor kurzem ein Europäisches Sicherheits- und Verteidigungsabkommen – eine Art Schengen-Abkommen im Bereich der Verteidigung – sowie die Schaffung eines Europäischen Sicherheitsrates vorgeschlagen; Letzterer würde auch Großbritannien nach dessen EU-Austritt mit umfassen. Dieses Konzept würde eine alternative Struktur zur NATO schaffen und über die derzeit im Umbau begriffene Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU hinausgehen.
Europa sollte angesichts neuer Bedrohungen die Mechanismen und Werkzeuge nutzen, die es bereits hat. Diese stehen bereits seit einem Jahrzehnt zur Verfügung, doch erst seit drei Jahren ist die Politik auch bereit, sie auch zu einzusetzen.
So haben die EU-Mitgliedsstaaten etwa 2017 die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (SSZ) gegründet, um die Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten in Verteidigungsfragen auszuweiten, und nach den Terroranschlägen in Frankreich auf dessen Ersuchen hin die „Bestandsklausel“ der EU aktiviert. Darüber hinaus hat die EU im vergangenen Jahr eine Erklärung über gegenseitige Zusammenarbeit mit der NATO unterzeichnet, und sie hat die Schaffung eines Europäischen Verteidigungsfonds vereinbart. All diese Initiativen stärken Europa, ohne das Bündnis zu untergraben.
Darüber hinaus kann die EU ihre militärischen Fähigkeiten weiter verbessern, ohne dass sie dazu neue Strukturen schaffen müsste, die über den bestehenden Rechtsrahmen hinausgehen. Zunächst einmal müssen die europäischen Regierungen eine Entscheidung über die Zukunft der EU-Kampfgruppen treffen, die seit Jahren im Dienst stehen, aber bisher noch nie zum Einsatz gekommen sind. Sie sollten zudem ernsthaft in Betracht ziehen, den bestehenden Militärischen Planungs- und Durchführungsstab auszubauen, um nach 2020 ein voll funktionsfähiges EU-Operationskommando zur Verfügung zu haben. Die EU hat mehr als 30 militärische, zivile und gemischte Missionen durchgeführt und plant, seine internationalen Aktivitäten im Rahmen ihrer kürzlich verabschiedeten Globalen Strategie zusätzlich auszuweiten.
All diese in den bestehenden rechtlichen Rahmen der EU fallenden Initiativen würden Europa stärken, ohne die Rolle der NATO zu untergraben. Und dies sollte unser Grundsatz für unsere langfristige Strategie und Politik sein.
Die NATO beginnt ihr achtes Jahrzehnt mit anhaltender Uneinigkeit zwischen den USA und Europa. Wir müssen hoffen, dass das Stoltenberg-Paradox verschwindet und das Bündnis seine militärischen Anstrengungen weiter verstärkt, um vor einer möglichen russischen Aggression abzuschrecken, während gleichzeitig die politischen Spannungen zwischen den amerikanischen und europäischen Verbündeten abgebaut werden. Polen und die übrigen Länder der NATO-Ostflanke werden dies genau im Auge behalten.
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By choosing to side with the aggressor in the Ukraine war, President Donald Trump’s administration has effectively driven the final nail into the coffin of US global leadership. Unless Europe fills the void – first and foremost by supporting Ukraine – it faces the prospect of more chaos and conflict in the years to come.
For most of human history, economic scarcity was a constant – the condition that had to be escaped, mitigated, or rationalized. Why, then, is scarcity's opposite regarded as a problem?
asks why the absence of economic scarcity is viewed as a problem rather than a cause for celebration.
WARSCHAU – Die NATO sieht sich zu ihrem 70. Jahrestag den schwersten Herausforderungen seit dem Ende des Kalten Krieges vor fast drei Jahrzehnten ausgesetzt. Das Bündnis wurde durch Russlands illegale Annexion der Krim und seinen Einmarsch im Donezbecken in der Ostukraine, die beißende Kritik von US-Präsident Donald Trump und die vom Brexit befeuerte Verwandlung Großbritanniens in „Little England“ erschüttert. Trotz dieser Rückschläge hat die NATO ihr Bekenntnis zu Mittel- und Osteuropa in den letzten Jahren deutlich verstärkt. Doch muss sie noch mehr tun.
Zwar sind sich die USA und ihre europäischen NATO-Verbündeten in wichtigen Fragen wie den Verteidigungsausgaben, dem Handel, dem Klimawandel und dem Nuklearabkommen von 2015 mit dem Iran uneinig; der Generalsekretär des Bündnisses, Jens Stoltenberg, hat dies bei seinem jüngsten Besuch in Warschau eingestanden. Doch wie Stoltenberg zu Recht betonte, funktioniert die militärische Zusammenarbeit innerhalb der NATO zugleich so gut wie seit vielen Jahren nicht. Am vielleicht deutlichsten zeigt sich dieses „Stoltenberg-Paradox“ an der Weise, in der die NATO zunehmend ihre Ostflanke stärkt, darunter auch in Polen.
Stoltenberg verweist mit Recht auf die jüngsten NATO-Reformen. So hat das Bündnis z. B. eine neue schnelle Einsatztruppe, die Very High Readiness Joint Task Force, ins Leben gerufen. Darüber hinaus hat die NATO an ihrer Ostflanke eine Reihe sehr umfangreicher Manöver abgehalten, um Russland zu zeigen, dass das Bündnis seine Verpflichtungen gegenüber jedem seiner Mitgliedstaaten sehr ernst nimmt. Dies ist besonders für Polen und die Baltischen Staaten wichtig, die alle an Russland grenzen.
Auch die turnusmäßige Entsendung multinationaler NATO-Bataillone in die Länder der Ostflanke demonstriert die Entschlossenheit des Bündnisses. Diese als Enhanced Forward Presence bezeichnete Beistandsinitiative schließt die Verlagerung von amerikanischem Militärpersonal und -gerät in die Region ein.
Infolgedessen sind derzeit 4400 US-Soldaten in Polen stationiert. Dies stellt eine deutliche Ausweitung gegenüber den anfänglichen Vereinbarungen dar, die der damalige polnische Außenminister Radek Sikorski (in Bezug auf eine Abwehrraketenbasis in der Stadt Redzikowo) und ich als Verteidigungsminister (in Bezug auf einen ständigen US-Luftwaffenstützpunkt in Łask) unterzeichnet hatten.
Einen weiteren Schritt voran unternahmen die Verbündeten auf dem NATO-Gipfel in Brüssel im Juli 2018, als sie der neuen NATO-Bereitschaftsinitiative zustimmten. Diese auch als „Four Thirties“ bezeichnete Initiative legt fest, dass das Bündnis innerhalb von 30 Tagen 30 Bataillone mechanisierter Bodentruppen, 30 Flugstaffeln und 30 Schlachtschiffe zusätzlich einsatzbereit haben muss. Dies ist ein Kernaspekt der aktuellen NATO-Doktrin der „Abschreckung durch schnelle Verstärkung“.
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Trumps Interventionen haben derweil politisch schwierigere Fragen aufgeworfen. Seine Erklärung, die NATO sei obsolet, hat viele in Europa erschüttert und war ein Geschenk an Russland. Und während Trump einen geschäftsorientierten Ansatz an den Tag legt, basiert das Bündnis auf dem bindenden Grundsatz „Alle für einen, einer für alle“. Ohne diesen würde die NATO nicht existieren. Die Entscheidung Großbritanniens zum Austritt aus der EU hat die Sorgen der Europäer weiter vertieft.
Doch sind Befürchtungen über das transatlantische Bündnis keine Entschuldigung dafür, dass Europas Politiker mit völlig unrealistischen Vorschlägen wie etwa dem einer von der NATO unabhängigen europäischen Armee hausieren gehen.
Die Idee des französischen Präsidenten Emmanuel Macron einer „strategischen Autonomie“ scheint gleichermaßen nebulös. Macron hat vor kurzem ein Europäisches Sicherheits- und Verteidigungsabkommen – eine Art Schengen-Abkommen im Bereich der Verteidigung – sowie die Schaffung eines Europäischen Sicherheitsrates vorgeschlagen; Letzterer würde auch Großbritannien nach dessen EU-Austritt mit umfassen. Dieses Konzept würde eine alternative Struktur zur NATO schaffen und über die derzeit im Umbau begriffene Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU hinausgehen.
Europa sollte angesichts neuer Bedrohungen die Mechanismen und Werkzeuge nutzen, die es bereits hat. Diese stehen bereits seit einem Jahrzehnt zur Verfügung, doch erst seit drei Jahren ist die Politik auch bereit, sie auch zu einzusetzen.
So haben die EU-Mitgliedsstaaten etwa 2017 die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (SSZ) gegründet, um die Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten in Verteidigungsfragen auszuweiten, und nach den Terroranschlägen in Frankreich auf dessen Ersuchen hin die „Bestandsklausel“ der EU aktiviert. Darüber hinaus hat die EU im vergangenen Jahr eine Erklärung über gegenseitige Zusammenarbeit mit der NATO unterzeichnet, und sie hat die Schaffung eines Europäischen Verteidigungsfonds vereinbart. All diese Initiativen stärken Europa, ohne das Bündnis zu untergraben.
Darüber hinaus kann die EU ihre militärischen Fähigkeiten weiter verbessern, ohne dass sie dazu neue Strukturen schaffen müsste, die über den bestehenden Rechtsrahmen hinausgehen. Zunächst einmal müssen die europäischen Regierungen eine Entscheidung über die Zukunft der EU-Kampfgruppen treffen, die seit Jahren im Dienst stehen, aber bisher noch nie zum Einsatz gekommen sind. Sie sollten zudem ernsthaft in Betracht ziehen, den bestehenden Militärischen Planungs- und Durchführungsstab auszubauen, um nach 2020 ein voll funktionsfähiges EU-Operationskommando zur Verfügung zu haben. Die EU hat mehr als 30 militärische, zivile und gemischte Missionen durchgeführt und plant, seine internationalen Aktivitäten im Rahmen ihrer kürzlich verabschiedeten Globalen Strategie zusätzlich auszuweiten.
All diese in den bestehenden rechtlichen Rahmen der EU fallenden Initiativen würden Europa stärken, ohne die Rolle der NATO zu untergraben. Und dies sollte unser Grundsatz für unsere langfristige Strategie und Politik sein.
Die NATO beginnt ihr achtes Jahrzehnt mit anhaltender Uneinigkeit zwischen den USA und Europa. Wir müssen hoffen, dass das Stoltenberg-Paradox verschwindet und das Bündnis seine militärischen Anstrengungen weiter verstärkt, um vor einer möglichen russischen Aggression abzuschrecken, während gleichzeitig die politischen Spannungen zwischen den amerikanischen und europäischen Verbündeten abgebaut werden. Polen und die übrigen Länder der NATO-Ostflanke werden dies genau im Auge behalten.
Aus dem Englischen von Jan Doolan