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Im Nahen Osten nichts Neues

LJUBLJANA: Eine Abwandlung des Titels von Erich Maria Remarques berühmtem Roman aus dem Jahr 1929 über den Alltag in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs scheint zum ersten Jahrestag des Angriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober passend. Die Medien berichten über immer neue und überraschende Entwicklungen – wie die Tötung des Hamas-Führers Ismail Haniyeh und des Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah, die israelische Invasion im Südlibanon und den iranischen Angriff mit ballistischen Raketen auf Israel –, doch tatsächlich entwickeln sich die Dinge zu dem, was sie immer waren. Von Anfang an angelegte Potenziale werden verwirklicht.

Von einer breiteren historischen und philosophischen Perspektive aus betrachtet geht die Behauptung der Kritiker Israels, dass Israel in seiner Mission, die Hamas zu zerstören, scheitere und lediglich Palästinenser töte und den Gazastreifen verwüste, am Kern der Sache vorbei. Erinnern wir uns an die Strategie Israels vor dem 7. Oktober. Jahrelang sorgte es dafür, dass ausländische Gelder die Hamas erreichten, um die Palästinenser zu spalten und so jeden Fortschritt in Richtung einer Zwei-Staaten-Lösung zu verhindern.

Natürlich handelt Israel im Gazastreifen, im Westjordanland und im Libanon in Selbstverteidigung. Aber viel hängt davon ab, wie man „selbst“ definiert. Wenn Russland einen Teil der Ukraine besetzt und zu einem Teil Russlands erklärt, kann es sich dann auf Selbstverteidigung berufen, wenn es diejenigen, die Widerstand leisten, vernichtet? Als Deutschland zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Belgien einmarschierte, soll ein belgischer Minister geäußert haben: „Was auch immer die Historiker später über diesen Krieg sagen werden: Niemand wird behaupten können, dass Belgien Deutschland angegriffen hat.“ Doch seit dem Einmarsch Russlands gilt der Respekt vor feststehenden Tatsachen nicht mehr. Der Kreml und seine Verbündeten behaupten immer effektiver, die Ukraine habe den Konflikt ausgelöst.

Israels Rhetorik ist dem nicht unähnlich. Als die israelischen Streitkräfte am 1. Oktober ihre „begrenzte Bodenoperation“ im Libanon starteten, erinnerte das an Russlands euphemistische Beschreibung seiner Invasion als „militärische Sonderoperation“. In beiden Fällen können wir Groucho Marx paraphrasieren: Es mag wie Krieg aussehen, und es mag wie Krieg schmerzen. Aber lassen Sie sich davon nicht täuschen; es ist wirklich Krieg.

Um es noch einmal zu sagen: Die Dinge entwickeln sich zu dem, was sie schon immer waren. Ende Juli empörte sich eine Horde israelischer Minister, Abgeordneter, Journalisten und Fernsehkommentatoren über eine Razzia der israelischen Militärpolizei auf dem Stützpunkt Sde Teiman im Süden Israels, die auf Berichte folgte, israelische Reservisten hätten dort palästinensische Gefangene misshandelt. Die Razzia und die Verhaftungen lösten große öffentliche Proteste aus, obwohl es andere israelische Reservisten waren, die die Sache ans Licht gebracht hatten. Entsetzt über das, was sie gesehen hatten, brachten sie heldenhaft die Anschuldigung vor, das Sicherheitspersonal auf dem Stützpunkt habe palästinensische Gefangene gefoltert, indem es sie mit Metallstangen sodomisierte. Einige der Gefangenen waren daraufhin verblutet.

Doch statt sich über diese Grausamkeiten zu empören, schimpften einige israelische Offizielle über diejenigen, die den Fall verfolgten. Man beachte die folgende, vom britischen Journalist Peter Oborne veröffentlichte Mitschrift einer Debatte in der Knesset (dem israelischen Parlament):

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Nicht identifizierter israelischer Abgeordneter: „Das ist Wahnsinn, jemand in der Staatsanwaltschaft denkt, man könne Soldaten für Dinge verhaften, die sie mit Terroristen der Nuchba (Hamas-Eliteeinheit) machen. Wir können nicht weitermachen wie bisher ...“

[Zwischenruf]: „Einen Stock ins Rektum einer Person einzuführen, ist das legitim?“

Abgeordneter: „Halt’s Maul! Ja, wenn er zur Nuchba gehört, ist alles legitim. Alles.“

Oder betrachten Sie diesen (ebenfalls von Oborne geteilten) Ausschnitt aus einer Podiumsdiskussion im israelischen Fernsehen:

Erster Diskussionsteilnehmer: „Soldaten werden verdächtigt, einen gefesselten Gefangenen vergewaltigt zu haben – das besorgt Sie nicht?“

Zweiter Diskussionsteilnehmer: „Es ist mir scheißegal, was sie mit diesem Hamas-Mann machen. Das einzige Problem, das ich sehe, ist, dass es nicht Grundsatz staatlicher Politik ist, Gefangene zu misshandeln. Erstens haben sie es verdient, und es ist eine großartige Form der Vergeltung. Zweitens hat es womöglich abschreckende Wirkung.

Man stelle sich unsere Reaktion vor, wenn all dies in Russland passiert wäre. So verrückt es klingen mag: Die beste Erklärung für unser moralisches Dilemma könnte eine Verschwörungstheorie sein. Vor fast einem Jahr stellte ich mir ein Telefongespräch zwischen israelischen und Hamas-Hardlinern vor:

Israelischer Hardliner: „Hallo, erinnern ihr euch, wie wir euch diskret gegen die PLO unterstützt haben? Jetzt seid ihr uns einen Gefallen schuldig: Warum attackiert ihr nicht ein paar Juden in der Nähe von Gaza und schlachtet sie ab? Das sind Araberfreunde, Friedensaktivisten, also brauchen wir sie nicht. Was wir brauchen, ist etwas, um die zivilen Proteste gegen uns zu beenden und von der langsamen ethnischen Säuberung des Westjordanlandes abzulenken. Die Welt wird schockiert sein über eure Brutalität, und wir können dann das Opfer zu spielen, die nationale Einheit erreichen und die ethnische Säuberung im Westjordanland beschleunigen!“

Hamas-Hardliner: „Okay, aber wir brauchen auch einen Gefallen: Um euch für unser Gemetzel zu rächen, müsst ihr Zivilisten in Gaza bombardieren und dabei Tausende töten, vor allem Kinder. Das wird den Antisemitismus auf der ganzen Welt schüren, was unser wahres Ziel ist!“

Israelischer Hardliner: „Kein Problem, auch wir brauchen ein Wiederaufleben des Antisemitismus. Das erlaubt es uns, weiter die Opferrolle zu spielen und zur Selbstverteidigung zu machen, was wir wollen!“

Dieses imaginäre Szenario ist natürlich obszön. Aber erinnern Sie sich an Robert Harris’ Roman Ghost (später verfilmt von Roman Polanski). Ein Ghostwriter für Adam Lang, einen ehemaligen britischen Premierminister nach dem Vorbild von Tony Blair, entdeckt, dass sein Kunde in die Labour-Partei eingeschleust und die ganze Zeit von der CIA manipuliert wurde. Die „gewollt schockierende Enthüllung“ im Buch kommentierte ein Kritiker des Observer mit den Worten, sie sei „so schockierend, dass sie einfach nicht wahr sein kann, obwohl sie, wenn sie es wäre, natürlich so ziemlich alles in der jüngsten Geschichte Großbritanniens erklären würde.“

Wie Harris’ erfundene Geschichte zeigt auch mein eigenes abscheuliches Szenario die Logik des heutigen perversen Tangos auf: Es ist nicht wahr, aber wäre es wahr, würde es alles erklären. Mein imaginärer Telefonanruf ist nicht Teil der Realität, aber er ist real. Da es Opfern grundsätzlich erlaubt ist, zurückzuschlagen, gibt der Krieg Israel die Möglichkeit, eine ethnische Säuberung in Großisrael durchzuführen. Laut Israels rechtsextremem Finanzminister Bezalel Smotrich ist die „freiwillige Migration“ der Palästinenser in Gaza die „richtige humanitäre Lösung“ für die belagerte Enklave und die Region.

Die Parallele zwischen der Ukraine und Palästina hat sich verstärkt, da sich einige wichtige Unterscheidungen verwischt haben. Der israelfreundliche Westen (insbesondere die USA) stellt seine Unterstützung für die Ukraine und seine Unterstützung für Israel inzwischen als zwei Initiativen im selben globalen Krieg dar, so als gäbe es keinen Unterschied zwischen Israel und der Ukraine. Von den Pseudo-Linken behaupten derweil viele, die ursprünglichen Angriffe Russlands und der Hamas seien beide gerechtfertigte Verteidigungsmaßnahmen als Reaktion auf historische Provokationen und Unterdrückung gewesen, so als wäre Donezk das russische Westjordanland.

In der sich gerade herausbildenden neuen Weltordnung ist der Gaza-Krieg ein Knotenpunkt, an dem sich alle bestimmenden Antagonismen der modernen Ära verdichten. Hier wird sich alles entscheiden. „Palästina“ ist heute ein universelles Symbol – ein Platzhalter für alle europäischen Sünden und ein Quell des Antisemitismus.

Die Tragödie besteht darin, dass das aus der europäischen Schuld am Holocaust hervorgegangene Israel zu einem Symbol europäischer Unterdrückung und Kolonisierung wird. Die Europäer gaben den Überlebenden jenes Völkermords Land, das seit Jahrhunderten von anderen Völkern bewohnt wurde. Es ist diese ungesühnte Erbsünde, die einmal mehr den Frieden im Nahen Osten verhindert.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/PXB8oqmde