LONDON – Das „Schlüsselpersonenrisiko“ ist für Unternehmen schon lange ein Thema, mit dem sie sich befassen müssen und es gibt sogar Versicherungen gegen den möglichen Verlust von Führungskräften durch Tod, Krankheit oder Verletzung. Doch die Pleite der Kryptobörse FTX, der Kursabsturz der Meta-Aktie und das Chaos bei Twitter nach der Übernahme durch Elon Musk legen nahe, dass „Schlüsselpersonen“ eine ganz andere Art von Gefahr darstellen können. Nennen wir es „napoleonisches Gründerrisiko“. Vielleicht sollten Investoren und Kreditgeber eine Prämie verlangen, um das Risiko abzudecken, dass ein Starunternehmer eines Tages zu einem egomanischen Diktator wird und auf dem Weg dorthin Geld verbrennt.
Das Risiko ist natürlich nicht neu. Die Wirtschaftsgeschichte ist voll von Führungskräften, die auf eigene Faust über Firmengelder entscheiden, und von erfolgreichen Unternehmern, die nicht erkennen, dass ausgereifte, börsennotierte Unternehmen nicht ihre persönlichen Spielzeuge sind. Doch mit jedem Konjunkturzyklus, so scheint es, müssen alte Lektionen neu gelernt werden.
Nach der Dotcom-Blase zu Beginn dieses Jahrhunderts witzelte der geschichtenumwobene amerikanische Investor Warren Buffett: „Man findet erst heraus, wer nackt schwimmt, wenn die Ebbe einsetzt.“ So ist der moderne Konjunkturzyklus: Auf ewig im Fluss zwischen Optimismus und Pessimismus und zwischen Boom und Pleite. Buffett hätte allerdings hinzufügen können, dass die optimistischen Zeiten der Flut der richtige Moment sind, um Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Ist man erst einmal mit der nackten Wahrheit konfrontiert, kann das Geld schon weg sein.
Im Fall von Sam Bankman-Fried und seiner Kryptobörse FTX, die Anfang dieses Jahres mit 32 Milliarden Dollar bewertet wurde, ist das sicherlich zutreffend. Kaum jemand wird Mitleid für diejenigen empfinden, die durch die Pleite des Unternehmens Geld verloren haben. Ungeachtet der Behauptung von Bankman-Fried, er habe eine ausgereifte Krypto-Version anzubieten, hätten alle Beteiligten wissen müssen, dass sie sich an einen Spieltisch setzen. Und jeder, der Bankman-Frieds extravaganten Lebensstil im Blick hatte, hätte erkennen müssen, dass er kein Buffett ist.
Sicherlich ist es für Anleger schwierig, sich gegen solche Freibeuter abzusichern. Wer ein Unternehmen wie FTX unterstützt, sucht nach hochriskanten Wetten mit dem Potenzial für massive Gewinne. Dennoch sollte ein kluger Anleger in der Lage sein, Anzeichen dafür zu erkennen, dass sich aus einem Freibeuter eher ein Pirat entwickelt. Im Fall von Bankman-Fried waren die Anzeichen allgegenwärtig: Er leitete das Unternehmen mit einigen engen Freunden von einem Penthouse auf den Bahamas aus.
Auch der ehemalige britische Premierminister David Cameron hätte erkennen müssen, dass mit seiner hochdotierten Beraterrolle bei Greensill Capital etwas nicht stimmte, lange bevor das Unternehmen 2021 pleiteging. Was soll der australische Freibeuter und Gründer der Firma, Lex Greensill, wohl mit vier Privatjets gemacht haben, die alle auf Rechnung der Firma unterhalten wurden?
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Da es bei Investitionen um Wetten auf eine ungewisse Zukunft geht, spielen Zuversicht, Vertrauen und die Kunst des Verkaufens eine große Rolle. Während Investoren formell Geschäftspläne unterstützen, hängt ihr Glaube an diesen Plan oft von ihrem Glauben an eine Person ab. Die Gründerin von Theranos, Elizabeth Holmes, die gerade wegen Betrugs zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, mag daran geglaubt haben oder auch nicht, dass ihre Firma eine Technologie entwickeln kann, die die Diagnostikbranche revolutionieren würde. Was zählte, war ihre Fähigkeit, Investoren davon zu überzeugen, dass ihre wunderbare Vision mit genügend Geld Wirklichkeit werden könnte.
Ein diversifiziertes Portfolio ist der beste Schutz vor Verlusten durch Betrug oder Wahnvorstellungen. Die gesamte Risikokapitalbranche beruht auf der Vorstellung, dass die Gewinne aus den seltenen Erfolgsgeschichten die Verluste durch all die Blindgänger und Gauner bei weitem aufwiegen werden, wenn man auf genügend ehrgeizige Start-ups setzt. Während der langen Ära des extrem billigen Kapitals – in Verbindung mit den potenziell globalen Märkten, die Technologieunternehmen zur Verfügung stehen – wurden die Verkaufsargumente verführerischer und die Wetten viel größer. Aber die Grundprinzipien sind immer dieselben geblieben.
Bei kampferprobten Superstar-Unternehmern wie Mark Zuckerberg von Meta oder Elon Musk von Twitter ist das Problem komplexer. Nachdem sie sich in den letzten zwei Jahrzehnten bewährt haben, sind sie heute eher altgediente CEOs als Start-up-Gründer. Es sei jedoch daran erinnert, dass auch Napoleon Bonaparte ein politischer und militärischer Veteran war, als er 1812 seine katastrophale Invasion in Russland startete.
Wenn sich Erfolg an Erfolg reiht, wenn sich die Milliarden anhäufen und die Imperien größer werden, passieren zwei Dinge. Erstens wird das Unternehmen – oder in Musks Fall das Unternehmensimperium – so groß und komplex, dass es professionelle Manager, formale Strukturen und jede Menge gegenseitige Kontrolle braucht. Und zweitens entwickeln diejenigen, die milliardenschwere Unternehmen von Grund auf aufbauen, oft ein Anspruchsdenken und ein Gefühl der Straflosigkeit und benehmen sich, als ob dieses ganze Grundgerüst lediglich ihre Visionen behindert hätte.
Die vielen Jahre des billigen Kapitals – eine scheinbar immerwährende Flut – verdeckten diese Tendenz. Die guten Zeiten hielten so lange an, dass viele Anleger die Grundlagen vergaßen, während Politiker, die sich über die Schaffung von Arbeitsplätzen und das Wachstum in neuen Branchen freuten, den Tech-Milliardären gegenüber viel zu nachsichtig wurden, die oft zu wichtigen Quellen für Wahlkampfspenden wurden.
Meta ist ein einschlägiger Fall. Jeder, der Aktien des Unternehmens besitzt, hätte die Risiken erkennen müssen, die mit der Zwei-Klassen-Aktienstruktur des Unternehmens einhergehen. Obwohl Zuckerberg nur 13% aller Aktien hält, besitzt er rund 55% der stimmberechtigten Aktien und hat damit freie Hand bei den Entscheidungen des Unternehmens.
In guten Zeiten mag diese Struktur – die von anderen Tech-Unternehmen wie Alphabet (Google) geteilt wird – sinnvoll erschienen sein. Aber nachdem Meta im vergangenen Jahr drei Viertel seines Börsenwerts verloren und Zuckerberg das Unternehmen mit Milliardeninvestitionen in die Schaffung eines Virtual-Reality-Erlebnisses (das Metaverse) aufs Spiel gesetzt hat, sind die Anleger in Aufruhr, obwohl sie sich selbst die Schuld zuzuschreiben haben.
Wird Musk – oder seine Kreditgeber und Investoren – diese Lektion beherzigen? Musks bisheriges Verhalten bei Twitter deutet darauf hin, dass allen Beteiligten eine teure Lektion bevorsteht. Er hat bereits die Hälfte der Mitarbeiter des Unternehmens entlassen und dabei möglicherweise gegen das Arbeitsrecht verstoßen. Jetzt muss er einen Weg finden, Twitter so profitabel zu machen, dass der Kaufpreis von 44 Milliarden Dollar gerechtfertigt ist. Das ist eine große Aufgabe. Die Aufmerksamkeit für Twitter mag zwar insgesamt gestiegen sein, doch viele große Anzeigenkunden – die Haupteinnahmequelle der Plattform – haben ihre Kampagnen bereits eingestellt.
Nach seinem Rückzug aus Moskau schlug Napoleon weitere Schlachten, einige davon mit großem Geschick, aber sein Ruf der Unbesiegbarkeit war ein für alle Mal dahin. Den Anblick eines nackten Kaisers kann man einfach nicht vergessen.
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At the end of a year of domestic and international upheaval, Project Syndicate commentators share their favorite books from the past 12 months. Covering a wide array of genres and disciplines, this year’s picks provide fresh perspectives on the defining challenges of our time and how to confront them.
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LONDON – Das „Schlüsselpersonenrisiko“ ist für Unternehmen schon lange ein Thema, mit dem sie sich befassen müssen und es gibt sogar Versicherungen gegen den möglichen Verlust von Führungskräften durch Tod, Krankheit oder Verletzung. Doch die Pleite der Kryptobörse FTX, der Kursabsturz der Meta-Aktie und das Chaos bei Twitter nach der Übernahme durch Elon Musk legen nahe, dass „Schlüsselpersonen“ eine ganz andere Art von Gefahr darstellen können. Nennen wir es „napoleonisches Gründerrisiko“. Vielleicht sollten Investoren und Kreditgeber eine Prämie verlangen, um das Risiko abzudecken, dass ein Starunternehmer eines Tages zu einem egomanischen Diktator wird und auf dem Weg dorthin Geld verbrennt.
Das Risiko ist natürlich nicht neu. Die Wirtschaftsgeschichte ist voll von Führungskräften, die auf eigene Faust über Firmengelder entscheiden, und von erfolgreichen Unternehmern, die nicht erkennen, dass ausgereifte, börsennotierte Unternehmen nicht ihre persönlichen Spielzeuge sind. Doch mit jedem Konjunkturzyklus, so scheint es, müssen alte Lektionen neu gelernt werden.
Nach der Dotcom-Blase zu Beginn dieses Jahrhunderts witzelte der geschichtenumwobene amerikanische Investor Warren Buffett: „Man findet erst heraus, wer nackt schwimmt, wenn die Ebbe einsetzt.“ So ist der moderne Konjunkturzyklus: Auf ewig im Fluss zwischen Optimismus und Pessimismus und zwischen Boom und Pleite. Buffett hätte allerdings hinzufügen können, dass die optimistischen Zeiten der Flut der richtige Moment sind, um Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Ist man erst einmal mit der nackten Wahrheit konfrontiert, kann das Geld schon weg sein.
Im Fall von Sam Bankman-Fried und seiner Kryptobörse FTX, die Anfang dieses Jahres mit 32 Milliarden Dollar bewertet wurde, ist das sicherlich zutreffend. Kaum jemand wird Mitleid für diejenigen empfinden, die durch die Pleite des Unternehmens Geld verloren haben. Ungeachtet der Behauptung von Bankman-Fried, er habe eine ausgereifte Krypto-Version anzubieten, hätten alle Beteiligten wissen müssen, dass sie sich an einen Spieltisch setzen. Und jeder, der Bankman-Frieds extravaganten Lebensstil im Blick hatte, hätte erkennen müssen, dass er kein Buffett ist.
Sicherlich ist es für Anleger schwierig, sich gegen solche Freibeuter abzusichern. Wer ein Unternehmen wie FTX unterstützt, sucht nach hochriskanten Wetten mit dem Potenzial für massive Gewinne. Dennoch sollte ein kluger Anleger in der Lage sein, Anzeichen dafür zu erkennen, dass sich aus einem Freibeuter eher ein Pirat entwickelt. Im Fall von Bankman-Fried waren die Anzeichen allgegenwärtig: Er leitete das Unternehmen mit einigen engen Freunden von einem Penthouse auf den Bahamas aus.
Auch der ehemalige britische Premierminister David Cameron hätte erkennen müssen, dass mit seiner hochdotierten Beraterrolle bei Greensill Capital etwas nicht stimmte, lange bevor das Unternehmen 2021 pleiteging. Was soll der australische Freibeuter und Gründer der Firma, Lex Greensill, wohl mit vier Privatjets gemacht haben, die alle auf Rechnung der Firma unterhalten wurden?
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Ein diversifiziertes Portfolio ist der beste Schutz vor Verlusten durch Betrug oder Wahnvorstellungen. Die gesamte Risikokapitalbranche beruht auf der Vorstellung, dass die Gewinne aus den seltenen Erfolgsgeschichten die Verluste durch all die Blindgänger und Gauner bei weitem aufwiegen werden, wenn man auf genügend ehrgeizige Start-ups setzt. Während der langen Ära des extrem billigen Kapitals – in Verbindung mit den potenziell globalen Märkten, die Technologieunternehmen zur Verfügung stehen – wurden die Verkaufsargumente verführerischer und die Wetten viel größer. Aber die Grundprinzipien sind immer dieselben geblieben.
Bei kampferprobten Superstar-Unternehmern wie Mark Zuckerberg von Meta oder Elon Musk von Twitter ist das Problem komplexer. Nachdem sie sich in den letzten zwei Jahrzehnten bewährt haben, sind sie heute eher altgediente CEOs als Start-up-Gründer. Es sei jedoch daran erinnert, dass auch Napoleon Bonaparte ein politischer und militärischer Veteran war, als er 1812 seine katastrophale Invasion in Russland startete.
Wenn sich Erfolg an Erfolg reiht, wenn sich die Milliarden anhäufen und die Imperien größer werden, passieren zwei Dinge. Erstens wird das Unternehmen – oder in Musks Fall das Unternehmensimperium – so groß und komplex, dass es professionelle Manager, formale Strukturen und jede Menge gegenseitige Kontrolle braucht. Und zweitens entwickeln diejenigen, die milliardenschwere Unternehmen von Grund auf aufbauen, oft ein Anspruchsdenken und ein Gefühl der Straflosigkeit und benehmen sich, als ob dieses ganze Grundgerüst lediglich ihre Visionen behindert hätte.
Die vielen Jahre des billigen Kapitals – eine scheinbar immerwährende Flut – verdeckten diese Tendenz. Die guten Zeiten hielten so lange an, dass viele Anleger die Grundlagen vergaßen, während Politiker, die sich über die Schaffung von Arbeitsplätzen und das Wachstum in neuen Branchen freuten, den Tech-Milliardären gegenüber viel zu nachsichtig wurden, die oft zu wichtigen Quellen für Wahlkampfspenden wurden.
Meta ist ein einschlägiger Fall. Jeder, der Aktien des Unternehmens besitzt, hätte die Risiken erkennen müssen, die mit der Zwei-Klassen-Aktienstruktur des Unternehmens einhergehen. Obwohl Zuckerberg nur 13% aller Aktien hält, besitzt er rund 55% der stimmberechtigten Aktien und hat damit freie Hand bei den Entscheidungen des Unternehmens.
In guten Zeiten mag diese Struktur – die von anderen Tech-Unternehmen wie Alphabet (Google) geteilt wird – sinnvoll erschienen sein. Aber nachdem Meta im vergangenen Jahr drei Viertel seines Börsenwerts verloren und Zuckerberg das Unternehmen mit Milliardeninvestitionen in die Schaffung eines Virtual-Reality-Erlebnisses (das Metaverse) aufs Spiel gesetzt hat, sind die Anleger in Aufruhr, obwohl sie sich selbst die Schuld zuzuschreiben haben.
Wird Musk – oder seine Kreditgeber und Investoren – diese Lektion beherzigen? Musks bisheriges Verhalten bei Twitter deutet darauf hin, dass allen Beteiligten eine teure Lektion bevorsteht. Er hat bereits die Hälfte der Mitarbeiter des Unternehmens entlassen und dabei möglicherweise gegen das Arbeitsrecht verstoßen. Jetzt muss er einen Weg finden, Twitter so profitabel zu machen, dass der Kaufpreis von 44 Milliarden Dollar gerechtfertigt ist. Das ist eine große Aufgabe. Die Aufmerksamkeit für Twitter mag zwar insgesamt gestiegen sein, doch viele große Anzeigenkunden – die Haupteinnahmequelle der Plattform – haben ihre Kampagnen bereits eingestellt.
Nach seinem Rückzug aus Moskau schlug Napoleon weitere Schlachten, einige davon mit großem Geschick, aber sein Ruf der Unbesiegbarkeit war ein für alle Mal dahin. Den Anblick eines nackten Kaisers kann man einfach nicht vergessen.
Aus dem Englischen von Sandra Pontow