mueller36_Kent Nishimura  Los Angeles Times via Getty Images_manchin sinema Kent Nishimura Los Angeles Times via Getty Images

Welche Bedeutung hat die politische Mitte noch?

PRINCETON –US-Präsident Joe Bidens ehrgeiziges Infrastruktur- und Sozialprogramm „Build Back Better” wird von zwei, regelmäßig als „Zentristen” bezeichneten demokratischen Senatoren - nämlich Kyrsten Sinema aus Arizona und Joe Manchin aus West Virginia - torpediert und behindert. Zahlreiche Beobachter fragen sich, was diese Zuschreibung als Zentristen im Jahr 2021 eigentlich bedeutet. Nicht nur Zyniker vermuten, dass diese beiden Persönlichkeiten weniger zentristisch als vielmehr egozentrisch agieren und nur vom Imperativ der Wiederwahl geleitet sind.

Nach welchen Kriterien sind Zentristen zu beurteilen? Diese Frage ist nicht nur in den Vereinigten Staaten in den Vordergrund gerückt, sondern auch in Frankreich, wo Präsident Emmanuel Macron - der versprach, in der französischen Politik eine neue Mitte aufzubauen - im nächsten Frühjahr seine Wiederwahl anstrebt. Wie im Falle der beiden US-Senatoren, betrachten Kritiker Macrons Zentrismus als Deckmantel eines Politikers, der faktisch nach der Pfeife der Rechten tanzt, weswegen die Bezeichnung „der Präsident der Reichen” gerechtfertigt erscheint.  

Die Frage lautet also nicht mehr, ob die politische Mitte halten kann, sondern ob der Zentrismus in der heutigen Politik überhaupt noch irgendeine Bedeutung hat. Der Begriff war im 20. Jahrhundert überaus sinnvoll, also in einer Zeit, die vielfach als Zeitalter ideologischer Extreme verstanden wurde. Die Zugehörigkeit zur politischen Mitte bedeutete, sich im Kampf gegen antidemokratische Parteien und Bewegungen zu engagieren. Aber schon damals wurde selbsternannten Zentristen oftmals Arglist vorgeworfen. Mit der ihm eigenen Ironie zählte sich Isaiah Berlin, ein Liberaler par excellence, zu den „elenden Zentristen, den verachtenswerten Gemäßigten, den kryptoreaktionären skeptischen Intellektuellen.”

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