hamada53_Ceng Shou YiNurPhoto via Getty Images_taiwan china Ceng Shou Yi/NurPhoto via Getty Images

Ist Taiwan die nächste Ukraine?

TOKIO – Die meisten Beobachter sind sich einig, dass der brutale Krieg Russlands gegen die Ukraine einen Angriff auf die Demokratie, die Souveränität und die Menschenrechte darstellt. Von den USA und ihren NATO-Bündnispartnern verlangt die Aggression des Kremls eine entschiedene Reaktion, zu der auch beispiellose Wirtschaftssanktionen gegen Russland und die Lieferung einer enormen Menge von Militärgütern an die Ukraine gehören. Vor einer direkten Beteiligung, die Russland als Kriegserklärung auffassen könnte, scheut der Westen jedoch zurück.

Die Politik Amerikas in Bezug auf Taiwan ist weit weniger klar umrissen. Und eben das ist der Trick: indem sie sich nicht festlegen, ob sie Taiwan gegen eine chinesische Invasion verteidigen würden, konnte die USA China bisher wirksam abschrecken, das keinen Krieg mit der führenden Militärmacht der Welt riskieren möchte – ohne Versprechungen zu machen, die sie vielleicht gar nicht halten wollen. Bleibt die Frage, ob diese Politik der „strategischen Mehrdeutigkeit“ Taiwan den Schutz bieten kann, den die Ukraine offensichtlich nicht hatte.

Für den ehemaligen Premierminister Japans Shinzō Abe war die Antwort „Nein“. Bleibt abzuwarten, ob andere führende Politiker in Japan diese Haltung nach seiner Ermordung aufrechterhalten. Noch im April hatte Abe argumentiert, die strategische Mehrdeutigkeit habe zwar früher funktioniert, hinge aber immer von zwei Faktoren ab: dass die USA stark genug sind, um diese Politik fortzusetzen, und China den USA militärisch „weit unterlegen“ ist. Beide Voraussetzungen sind heute nicht mehr gegeben. Nach Abes Ansicht ist diese Politik damit „unhaltbar“ geworden und müsste dringend durch das eindeutige Versprechen der USA ersetzt werden, Taiwan im Fall eines chinesischen Angriffs zu Hilfe zu kommen.

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